Abgesicherter Bereich

Es war ein gutes Konzert. Ich fühlte nichts. Das Volksfest der Rolling Stones im Olympiastadion  ■ Von Bodo Morshäuser

Kein gutbesuchtes Volksfest ohne mehrere Bühnen und Interpreten, die gefällige Melodien vortragen, die uns an gute Zeiten erinnern. Aber zum Fest des Volkes wird das Volksfest erst, wenn das Volk Gefallen an sich selbst findet, wie am Donnerstag abend im Olympiastadion, wo die 71.000 sich erst mal selbst feierten, in einem diffusen und sehr gewissen Vorgefühl. Volksfestgemäß wird irgendwo die La-Ola-Welle in Bewegung gesetzt und kreist zum größten Amüsement aller von Block zu Block. Allerdings gibt es hinter der Bühne einen zuschauerfreien Bereich, wo die Welle verebbt. Wenn sie dann, auf der einen Seite abgebrochen, auf der anderen scheinbar nahtlos fortgestzt wird, reißen die Leute im Innenraum des Stadions zum Applaus die Arme in die Höhe, was ein wunderschönes Bild abgibt. Während der Welle kritisch im Auge: die Ehrentribüne; denn es kam vor, daß die Herrschaften sich zu fein waren zum Aufstehen und Johlen. Auch die Ehrentribüne macht mit. Ehrensache. Kein Problem. Das ist was für alle.

Ein Volksfest eben.

Das Publikum erkennt sich sofort als Publikum wieder, egal ob es sich um Olympische Spiele, ein Pokalendspiel oder ein Konzert der Rolling Stones handelt.

Gute Bedingungen, damit die Wiedererkennungsshow beginnen kann. Wir haben, nach dem obligatorischen Einstandsfeuerwerk, „Satisfaction“, „Tumbling Dice“ und die „Voodoo Lounge“-Sirene gehört, und nach fünf Stones- Nummern hat jeder Konzertbesucher, wie alt er auch sei, seine Stones wiedererkannt.

Programm nach Beliebtheitsskala

Jetzt spielen die Männer „Angie“, und die Wunderkerzen und Feuerzeuge leuchten. Dann nicht mehr. Nach dem fünften Song ist man sozusagen wiedererkennungsmäßig abgefüllt. Nach der Vorspannung macht sich angesichts der Versicherung, daß die Stones wirklich da sind, eine Ermattung, ein Abschalten breit. Konsequent vermischen die Stones alte mit nicht so alten und mit neuen Titeln. Die Auswahl der Songs, die sie spielen, scheint eher Beliebtheitsskalen im Publikum zu gehorchen und Ergebnis von Statistiken zu sein, als daß man annehmen dürfte, die Stones würden diesen oder jenen Titel einfach nur deshalb spielen, weil sie ihn eben spielen wollen.

Bei früheren Stones-Konzerten wurde als Neuigkeit erwähnt, daß nun die Eltern mit den Kindern oder umgekehrt in dieselben Rockkonzerte gingen. Spätestens jetzt ist hinzufügen: Auch die Enkel gehen mit. Ich habe nicht wenige gesehen, zwischen acht und zwölf Jahre alt, die Eltern um die dreißig, die Großeltern um die fünfzig, also so alt wie die Musiker auf der Bühne.

Was sehen diese „Enkel“? Nicht jenes Symbol, das die Großeltern damit verbinden; auch nicht das, was die Eltern wiedererkennen. Diese Enkel schauen sich eifrig um und versuchen sich so zu verhalten wie die Erwachsenen, die ein Volksfest feiern, und die Kleinen freuen sich wiederum, wenn sie mitfeiern können wie die Großen. Den Beat, den können sie sowieso.

Dem Unternehmen Rolling Stones ist es gelungen, innerhalb von 30 Jahren immer wieder neue Generationen und Käuferkreise anzusprechen. Am Donnerstag abend wurde diese Anstrengung sehr anschaulich während des Songs „Sympathy for the devil“. Während sie den Song spielten, wurden riesige Puppen aufgeblasen und dominierten das Bühnenbild, das ansonsten den Eindruck von Metall erwecken sollte. In einer der großen aufgeblasenen Puppen war ein Frührockmusiker wie Elvis Presley zu erkennen, in einer anderen eine afrikanische Frau. Aber im Verhältnis zu diesen beiden waren die beiden Kleinkinderköpfe in der Mitte überdimensional groß. Das hat den Kids, den Enkeln der allerersten Stones-Fans, bestimmt gefallen. Und besonders auch, daß es zur Dramaturgie gehörte, daß diese Figuren nach der Lebensdauer zweier Songs, als seien sie angepikt worden, die Luft verloren und in sich zusammensackten.

Aus der Perspektive der Stars bringen diese gigantischen Konzerte ein Problem mit sich: Auch Mick Jagger ist nicht größer als ein normaler Mensch. Und was tut er nicht alles dafür, um sich und seinen Mannen dieses Problem nicht lästig werden zu lassen.

Um aus der erzwungenen Ferne eine funkenübertragende Nähe zu machen, ist eine Bühne mit zwei Stegen gebaut worden, die weit nach beiden Außenseiten hin reichen und auf denen Mick Jagger immer wieder bis zum letzten Zentimeter entlanghoppelt und Kußhände in die Ränge verteilt – woraufhin die gegrüßte Stadionseite dies mit rasendem Jubel beantwortet. Abteilung gelungenes Volksfest. Mick weiß, wie man das macht.

Um das Problem, daß auch fünf Rolling Stones nur so viel Platz einnehmen wie fünf andere Menschen, weiterhin zu lösen, läuft hinter der Bühne der Film dieses Konzerts ab, das x Kameraleute aufnehmen und eine entweder geniale oder gründlich routinierte Regie in einer wunderbaren Abmischung sichtbar macht.

Die Stones? Kein Problem. Mick Jagger sieht blendend aus, Keith Richard schafft es nicht glaubhaft, kaputt dreinzuschauen. Und Charlie Watts ist sowieso schon lange auf rote Zweireiher umgestiegen. (Als die Musiker einzeln vorgestellt wurden, erhielt Charlie Watts den deutlich längsten Applaus.) Die Stones sind gut drauf, perfekt und blendend. Aber ihr System hat keinerlei Öffnungen zu anderen Musikrichtungen hin. Die Stones befriedigen lediglich die bekannten Erwartungen an die Rolling Stones. Das tun sie perfekt.

Vergessen, daß die Herren sich andauernd verspielten, besonders bei „Satisfaction“, als Jagger in seiner Tanzerei einen Einsatz verpaßte, verspätet einsetzte und alle dazu brachte, ein paar Takte zu überspringen, und sie taten es. Auch eine Leistung.

Strategie des Markenartikels

Es war ein gutes Stones-Konzert, aber nicht unbedingt ein gutes Konzert. Ein gutes Stones-Konzert war es, weil die Stones geklungen haben, wie man es erwartet hatte, und somit funkten auch alle Wiedererkennungssignale. Ein gutes Konzert für Stones-Fans war es auch, weil die Band auf der Bühne so rauh wie die Stones klang und ihren Sound nicht technifiziert oder anderweitig verfeinert hatte. Man hörte anscheinend wirklich die Stones.

Und gerade deshalb war es nicht nur ein gutes Konzert für den nicht unbedingten Stones-Fan. Ich habe mich gewundert, daß sie keinen einzigen ihrer Songs einer Behandlung ausgesetzt haben, die mit neueren Popmusikrealitäten zu tun hat. Im Gegensatz zum Beispiel zu Neil Young sind die Stones nicht innovationsbereit oder nicht innovationsfähig. Sie wagen in ihrem zweieinhalbstündigen Konzert keinen einzigen Ausflug in einen noch nicht abgesicherten Bereich, sondern spielen konsequent immer nur die Stones. Für das Unternehmen Rolling Stones ist das wahrscheinlich, alles spricht dafür, die richtige Strategie, aber den willigen und geradezu hörigen Fans gegenüber ist es auch eine Vorenthaltung. Gut möglich, daß die Stones im Traum nicht daran denken, musikalische Experimente zu unternehmen, allein um den Ruf des eingeführten Markenartikels nicht zu gefährden.

So stellen sich die Stones als eine konservative Musiktruppe dar, die mit den Entwicklungen in der Welt der Musik, in der Weltmusik, nichts zu tun haben will. Ein Monolith. So war die Show. Ich fühlte nichts. Jeder musikalische Einfluß, den man den Stones zuordnen könnte, so hörte sich das Konzert an, könnte nur ein Einfluß der Rolling Stones selber sein.

Für Stones-Fans war es – klar – ein gutes Konzert. Für Golf-Fahrer ist der Golf ein gutes Auto. Man weiß, was man zu erwarten hat und daß man es geliefert bekommt. Aber niemals mehr.