Flaschenpost für Überlebende

■ Schöner Schein statt Passion todkranker Körper: „Still/Here“, ein Tanzprojekt von Bill T. Jones, in der Hamburger Kampnagelfabrik

Maxim versucht es mit aller Kraft. Bill drängt die Sorgen beiseite. Ruth hat eine Menge Liebe zu geben. Raymond sucht die anderen, aber er hält sie auf Abstand. Manchmal wird er sehr müde, aber er hat ein phantastisches Leben. Musette läßt die Schatten des Zweifels und der negativen Gedanken hinter sich: „I work hard pushing away concerns I have a lot of love to give I'm hiding the shadows of doubt and negativity behind me I reach out for others but I keep them on arm's length.“ Sätze aus dem Schattenreich.

Maxim und Bill, Ruth, Raymond und Mesette haben eine Grenze hinter sich gelassen, von deren Existenz die meisten Menschen zu Lebzeiten nichts erfahren: sie sind unheilbar krank, haben Krebs, multiple Sklerose, sind HIV-infiziert. Das Memento mori ist ihnen in den Leib geschrieben, es kreist in ihrer Blutbahn, während die Tumore wachsen und die Metastasen wuchern. Haben diese Körper etwas zu erzählen von ihrem Zustand? Können sie Nachrichten zurückschicken, zurück hinter die Grenze, die sie überschritten haben? Gibt es eine Flaschenpost für uns, und können wir ihre Botschaft verstehen? Bill T. Jones, schwarzer Tänzer und Choreograph aus den USA, ist unbedingt dieser Ansicht. Vom Lebenswillen der Todkranken will er erzählen, die Gesten der Stärke, der Hoffnung zu einer beschwörenden Choreographie verdichten – und scheitert damit. Und das, leider, nicht mal grandios. Er bleibt einfach am Kitsch kleben.

Auch Bill T. Jones hat die Grenze überschritten, mit der Diagnose HIV-positiv lebt er seit zehn Jahren. Sein Lebenspartner und künstlerisches Alter ego, Arnie Zane, starb 1988 an Aids. Seit Jahren veranstaltet er survival workshops, in denen Maxim und Bill, Ruth, Raymond, Musette und viele andere Todkranke über ihre Erfahrungen reden können, ihnen Ausdruck verleihen sollen mit ihren schönen, geschwächten und mutigen Körpern. Auf Videobändern dokumentiert, ist dieser survival talk zum Ausgangspunkt geworden für die abendfüllende Choreographie, mit der Bill T. Jones seit zwei Jahren durch Amerika und Europa tourt. „Still/ Here“, ja es gibt uns noch: trotzig beschwört der Titel den Lebensmut, der Menschen im Angesicht des Todes überfällt.

Wie ein Workshop beginnt die Performance: ein Name, ein Satz, eine Geste dazu. Ein neuer Name, ein anderer Satz: Wir stellen uns vor, guten Abend, die Todgeweihten grüßen euch. Fünf Tänzerinnen, fünf Tänzer hintereinander in der Reihe, eine Handbewegung wandert von vorne nach hinten, symmetrisch die Ausfallschritte nach links und rechts, die Reihe schließt sich wieder. Durchtrainiert die Körper, perfekt im Bewegungsablauf, sanft werden akrobatische Sprünge aufgefangen, das Lächeln friert nie ein, verschwindet nie von den Gesichtern. Lichtkreise umhüllen Pas-de-deux-Figuren, die sich zu Linien öffnen, zu Dreier-Kombinationen, in denen zwei den dritten tragen und halten, abrollen lassen und wieder an sich ziehen. Stimmen vom Band, die gleichen Sätze im O-Ton, verzerrt und verfremdet.

Blauleuchtende Videoschirme schweben im Halbdunkel, auf denen die eigentlichen Protagonisten auftauchen: Porträts der Todkranken, die noch sehr lebendig wirken, Bewegungsstudien in slow motion, ein pumpendes Herz in Großaufnahme, der Röntgenschatten einer Frau, langsam überblendet in einen ölig fließenden Strudel, aus dem wieder ein Gesicht auftaucht. „Wie sah das Untersuchungszimmer aus, in dem du deine Diagnose erfahren hast? – Ich erinnere die Augen des Arztes...“ Die Tänzer übernehmen die Gesten von den Bildschirmen, vergrößern sie und verleiben sie dem Repertoire ihrer Sprünge und Drehungen ein, verschmelzen sie im steten Wechsel von Anspannung und Erschlaffung, Sprung und Landung. Figuren des Gleichgewichts, Gesten der Berührung wie im therapeutischen Encounter: Laß dich fallen, du wirst getragen – eine Tänzerin gleitet sacht in sechs, acht ausgestreckte Arme. Halt mich fest – ein Tänzer springt einen anderen an, hängt an seinem Rücken, die Beine um die Hüfte des Partners geschlungen. Ein Lächeln zum Abschied.

Die Kostüme (Liz Prince) sind erlesen, im ersten Teil in Pastelltönen changierend, im zweiten Teil in flammendes Rot getaucht, das Lichtdesign (Robert Wierzel) vermittelt subtile Farbstimmungen zwischen Dunkelblau und Leuchtendgelb, die Tänzerinnen und Tänzer sind durchtrainiert – alles stimmt. Und nichts passiert. Nicht ein einziges Mal ist es Bill T. Jones gelungen, sein Workshopping in irgend etwas anderes zu überführen. Nirgends eine Differenz, ein Schmerz, ein Loch in der perfekt polierten Oberfläche. Nichts vom Toben der Mikroben, von der Glut der Tumore und den seelischen Gewalten, die sie auslösen. Nur gruppendynamisch angewärmtes think positive, das am Ende durch rituelle Rundtänze auch noch religiös überhöht wird. Ha-I-Vau meets Oberammergau, die Absicht spürt man schon, doch die Passion der Körper vertänzelt sich im schönen Schein.

Nachsatz: Dies schreibt einer, der die Erfahrung der Grenze bislang nicht kennengelernt hat. Vielleicht können HIV-Patienten, Leukämiekranke und multiple Sklerotiker Hoffung und Kraft schöpfen aus den Bildern, aus den Berührungen und Umklammerungen, den Gesten des Trostes, der Wärme des Gruppenkörpers. Vielleicht ist „Still/Here“, auch gegen den erklärten Willen seines Schöpfers, mehr eine Flaschenpost für die Über-Lebenden als für die einfach Lebenden. Dann wäre ein Hospiz der geeignete – und angemessene – Ort für seine Aufführung. Die Bühne des Tanztheaters ist es jedenfalls nicht. Kai Voigtländer