Einer flog über den Regenbogen

Christen und Nudisten, Hippies und Anarchisten proben in einem Rainbow Camp das einfache Leben und plaudern mit den Außerirdischen  ■ Aus Pohorska Wolfgang Farkas

Mitunter ist es peinlich so im Einklang mit der Natur. Gerade als Kevin eines der „shit holes“ gefunden hat und seine Hose herunterläßt, nähert sich eine Gestalt. Eine Taschenlampe blendet ihn. Dann eine Stimme: „Soll ich dir leuchten?“ – „Nein danke, nicht nötig.“ Kevin ist irritiert. Die hilfsbereite Frau verschwindet wieder und läßt ihn in der Dunkelheit zurück. Kevin, klein und drahtig, stellt sich vorsichtig auf das rutschige Brett, das über der Latrine liegt. Jetzt volle Konzentration, damit er nicht selbst in die Grube plumpst.

Spaß haben, feiern, ein bißchen in der Natur leben wie ein Indianer. So ungefähr hat sich der 19jährige Kevin Tuschl, angehender Zahntechniker aus Hamburg, das „Rainbow Gathering“ vorgestellt. Doch ganz so ist es nicht. Denn das Rainbow Camp, das dieses Jahr in den ersten drei Augustwochen in Tschechien stattgefunden hat, bietet zwar alles, was man zum Leben braucht: eine Küche mit großer Feuerstelle und Lehmofen, einen nahe gelegenen Bach, in dem man sich waschen kann, vier „shit holes“ und einen 20.000-Liter- Wassercontainer, den die örtlichen Wasserwerke alle zwei Tage für etwa 1.000 Mark auswechseln.

Aber Spaß haben, das ist nicht so leicht, wenn man wie Kevin in der Großstadt lebt und plötzlich zusammen mit wildfremden Brothers and Sisters der Natur ausgeliefert ist; wenn die nächste Steckdose zwanzig Kilometer entfernt ist; wenn man zwar Geld hat, aber nichts kaufen kann; wenn man zwar Zeit hat, aber auf einmal gar nichts damit anzufangen weiß.

Der tschechischen Polizei ging es zunächst nicht viel besser als Kevin: War das 13. europäische Rainbow Gathering, nahe dem südtschechischen Dorf Pohorska Ves, nicht doch eine Gefahr für die Sicherheit? Am 2. August, als das bei den Behörden angemeldete Treffen offiziell eröffnet wurde, erschienen zwanzig Polizisten in der Zeltstadt. Da ertönten von vier Seiten des Camps Muschelhörner – das Signal für den „Circle“, den Essenskreis. Zu essen gab es freilich nichts, und dennoch waren die Polizisten sogleich von einigen hundert barfüßigen, meist spärlich bekleideten Menschen umringt. Sie faßten sich an den Händen und stimmten die indische Ursilbe „Om“ an. „Das muß den Bullen zuviel gewesen sein“, vermutet Georg, einer der Organisatoren. „Und als sie gesehen haben, daß wir einfach nur friedlich zusammenleben, sind sie ziemlich schnell wieder abgehauen.“

Von da an steht dem Treffen nichts mehr im Weg, und die Gemeinde wächst. Am Ende sind es etwa dreitausend Menschen, die ihre Zelte und Tipis auf der Wiese und in den angrenzenden Waldstreifen aufgeschlagen haben. Darunter sind Christen und Nudisten, Hippies und Anarchisten, Hare- Krishnas und Buddhisten. Die einen wollen sich selbst finden, andere einfach tanzen. Sie kommen aus fast allen Ecken der Welt, von Österreich bis Chile, von Goa bis Niederbayern. Gemeinsam haben sie nur eines: Sobald sie das Camp betreten, gehören sie zu einer Familie. Die Erde ist ihre Mutter, ihr Symbol ist der Regenbogen.

Im Camp verschwindet das Private fast völlig. Schwierig, aber auch reizvoll für Kevin,der zum erstenmal da ist. „Rainbow“, sagt er nach einigen Tagen, „das bedeutet, daß du niemals allein einen Apfel ißt. Was du hast, wird geteilt.“ Und das Wichtigste: Man lerne Toleranz, denn jeder sei hier auf einem anderen Trip.

Paco zum Beispiel, 34jähriger zölibatär lebender Francospanier und Sitarspieler. Er hat seit seiner Ankunft kein einziges Wort gesprochen. Von Neumond bis zum heutigen Vollmond hält er, nach alter hinduistischer Tradition, ein Schweigefasten ein. Als er das Schweigen bricht, sind seine ersten Worte „Hara Hara Maha Deo“ – „Hallo, hallo, großer Gott“. Trotz des ständigen Trommelns und Gequassels auf dem Camp habe er so etwas wie Frieden gefunden.

Oder die Wienerin Micha, die mit Tochter Aisha angereist ist. Micha, Naturkosmetikerin, hat nach zwölf Jahren im Camp genug. Seit Beginn der Treffen hat sie sich mit um die Organisation gekümmert. „Beim erstenmal in der Schweiz waren wir gerade mal hundertfünfzig Leute“, sagt die robuste, bezopfte Frau, die sich ihre Lebensphilosophie aus indischen und indianischen Weisheiten zusammengesucht hat. „Die Energy, die Love, davon kann ich ein ganzes Jahr zehren.“ Aber mittlerweile sei das Treffen zu überlaufen, zu viele Leute würden meinen, daß man als Freak dreckig herumlaufen müsse. „Ich kann diese ganzen Halbindianer nicht mehr sehen. Aber das Gute ist immer noch, daß jeder mitbestimmen kann. Einen Häuptling gibt es nicht.“

Oder Oranda. Er ist alterslos, sagt er. Jeden Nachmittag hockt er auf einem moosbewachsenen Stein und schlürft seinen Tee. Er ist wahrscheinlich der einzige auf dem Camp, der von sich behauptet, schon einmal über den Regenbogen geflogen zu sein. Oranda hat eine helle Haut, rötliche Haare und eine sanfte, tiefe Stimme. Er wirkt ausgeglichen; vielleicht weil er den Workshop „Ascending Light Meditation“ leitet.

Dort lernt man, zum Erdmittelpunkt und zur Sonne zu reisen, um Energie zu tanken. Für Oranda selbst ein leichtes Spiel: „Ich bin Teil des Ashtar Command, und mein Auftrag ist es, die Erde zu heilen.“ Dabei unterstehe er dem direkten Kommando von Jesus Christus. Wenn er seinen Job auf Erden erledigt hat, wird er mit „Lichtschiffen“ zurück in seine Heimat fahren, zu den Plejaden, einem Siebengestirn. Noch aber muß er sein Dasein hier unten fristen: als Sozialhilfeempfänger in Holland.

Vollmondtag, Kevins letzter Tag. 11 Uhr morgens, das Camp wird langsam wach. In der Küche ist längst die Hölle los. Der Rauch brennt in den Augen, in den zwölf riesigen schwarzen Töpfen brodelt und dampft es. Kevin ist nach dem Aufstehen neugierig in die Küche gestolpert. Jetzt hilft er kochen: 3.000 Portionen Haferbrei zum Frühstück. „Das Rainbow funktioniert nach einem einfachen Prinzip“, hat er gelernt, „wenn keiner Lust hat, Frühstück zu machen, dann gibt es auch keins.“

Inzwischen kommt er sich nicht mehr blöd vor, wenn er vor dem Essen meditiert und singt. „Die Gemeinschaft ist zwar anstrengend, aber es ist auch tatsächlich ein bißchen Familie.“ Nach der kargen Mahlzeit dreht er heute sogar eine Runde mit den vier Musikern, die nach jedem Essen singend und tanzend Spenden für den nächsten Einkauf sammeln.

Kevins letzter Abend. Das Camp wir heute nicht mehr schlafen. Überall auf dem Platz lodern Feuer, Trommelschläge und Hare- Krishna-Gesänge sind in der Luft. Feuerspucker und Jongleure tauchen auf, der Vollmond leuchtet wie verrückt, die Regenbogenfamilie tanzt sich in einen alkohollosen Rausch: Sprit ist im Camp unerwünscht. Wie zu besten Hippiezeiten lassen nackte Frauen ihre Brüste wippen, Männer ihre Hüften kreisen, Kinder freuen sich über ihre geschminkten Gesichter. Ein Gitarrenspieler verwandelt die Wiese in eine Disco. Die Party steht unter einem guten Zeichen: Beim Abendsonnenschein hatte sich tatsächlich ein schwacher Regenbogen am Himmel gezeigt.

Der letzte, von dem Kevin sich am nächsten Morgen verabschiedet, ist der Münchner Matthias, ein erfahrener Rainbow-Besucher. Er gibt Kevin einen Tip. „Nach dem Rainbow ist es genauso ein Kulturschock, wie wenn du hier eintriffst. Du fällst in ein richtiges Loch, und die Stadt kommt dir vor wie ein Ungetüm.“ Umarmung und Kuß, dann nimmt Kevin seinen Rucksack und geht zur Infotafel am Eingang des Camps, um eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Er freue sich auf nächstes Jahr, sagt er, wo das Rainbow voraussichtlich in Portugal stattfinden wird. „Nach fünf Tagen in der Prärie freue ich mich aber auch auf ein Bier.“

Es treffen immer noch Besucher ein. „Welcome home!“ begrüßt die heutige Empfangsdame Diana eine Gruppe Australier. Dann kommt mit lautem Geknatter der Lastwagen aus Budweis und bringt die tägliche Lebensmittellieferung. Für das Geld, das gesammelt wurde, gibt es Dutzende Kisten Äpfel, Pflaumen, Weiß- und Rotkohl, Tomaten.

Die beiden Tschechinnen, die in dem Siebentonner gekommen sind, zählen die Scheine nach und tippen die einzelnen Posten in ihre Taschenrechner. Sie heißen Alenka und Milada, und mit ihrem gebürsteten Haar und den geblümten Synthetikkleidern wirken sie im Camp wie Wesen von einem anderen Stern.