Brasiliens Mittelstand zahlt die Zeche

Um die Inflation zu bekämpfen, ist Brasiliens Regierung jedes Mittel recht / Mindestlohnverdiener können sich erstmals mehr als Grundnahrungsmittel leisten  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Nur der Zickzackkurs ist konstant. Weil Brasiliens Regierung um ihr Anti-Inflations-Programm fürchtet, ändert sie jeden Monat die Spielregeln. Allein in diesem Jahr wurde der Wechselkurs zwischen der Landeswährung Real und dem US-Dollar fünfmal korrigiert. Die Ende vergangenen Jahres dekretierte Marktöffnung für Importprodukte wurde mit Einfuhrzöllen bis zu 70 Prozent wieder rückgängig gemacht. Die monatliche Rekordzinsrate von 18 Prozent zur Drosselung des Konsums soll erneut gesenkt werden.

Gut ein Jahr nach der Währungsreform im Juli 1994 beginnt jetzt die brasilianische Mittelschicht den Preis der Anti-Inflations-Politik zu spüren. Die Überbewertung der neuen brasilianischen Währung Real, die innerhalb des Landes mehr als einen US-Dollar wert ist, hat zwar die monatliche Inflationsrate von 30 auf 2 Prozent gedrückt. Doch gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten drastisch gestiegen. Exorbitante Zinsen führen zu Massenpleiten mittelständischer Betriebe und zu Liquiditätsengpässen großer Unternehmen und Banken. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Pedro Malan stehen 12 von 240 brasilianischen Geldinstituten vor der Pleite. „Vor der Währungsreform verdankten die Banken ein Drittel ihrer Einnahmen der Inflation“, erklärte der Minister. Jetzt müßten einige Finanzinstitute fusionieren, um zu überleben. Nicht nur die Banken, sondern auch ihre Kunden leiden unter akutem Geldmangel. Nach Informationen des Vorsitzenden der brasilianischen Bankenvereinigung „Febraban“, Claudio Torres, belaufen sich die Schulden brasilianischer Kreditnehmer auf 10 Milliarden Dollar. „Der typische Schuldner ist ein Arbeitnehmer mit etwa 1.000 Dollar Einkommen“, so Torres. Die Höhe eines Kredites entspreche im Durchschnitt vier Monatslöhnen. Bei dem heutigen Zinsniveau dürfte es für viele Brasilianer schwierig sein, ihre Schulden abzuzahlen.

Im Gegensatz zur Mittelschicht verhalf die Währungsreform Brasiliens Geringverdienern zu mehr Kaufkraft: Auch ohne den Schutz durch einen inflationsausgleichenden Anlagefonds ist ihr Lohn am Monatsende noch etwas wert. Mit einem Mindestlohn von 180 Mark kann man heute mehr als einen Korb mit Grundnahrungsmitteln erwerben, was zur Zeit der Hochinflation unmöglich war.

Seit April bremst Brasiliens Regierung den Konsum mit einer restriktiven Geldpolitik. Gegenüber dem ersten Vierteljahr 1995 ging die Industrieproduktion von April bis Juni um 7,5 Prozent zurück. Die Wachstumsprognosen für das laufende Jahr wurden von 8 auf 3 Prozent zurückgeschraubt. Wirtschaftsminister Malan änderte am letzten Freitag deshalb erneut den Kurs: Da die Gefahr der „Überhitzung“ nun nicht mehr bestehe, werde er die Zinsen wieder senken, kündigte er an.

Der Zickzackkurs kommt die brasilianischen Steuerzahler teuer zu stehen. Die hohen Zinsen verursachen nicht nur Rezession und Arbeitslosigkeit, sondern auch eine Explosion der Inlandsschulden. Ausländisches Kapital überschwemmt Brasiliens Börsen und wird nun mit 7 Prozent besteuert, wenn es nicht länger als drei Monate im Land bleibt. Brasiliens Zentralbank muß jeden Dollar Fremdwährung mit der Herausgabe von Reais decken. Um die im Land zirkulierende Geldmenge und damit die Inflation unter Kontrolle zu behalten, verkaufte sie Schuldentitel und erhöhte damit allein im Juli die Inlandsschuld von 70 auf 82 Milliarden Dollar. Die Finanzspritze für konkursbedrohte Geldinstitute strapaziert die öffentlichen Finanzen um weitere 3 Milliarden Dollar.

„Die Erhöhung der internen Schulden nimmt dem Anti-Inflationsprogramm seinen Glanz“, kritisiert der ehemalige brasilianische Wirtschaftsminister Mario Henrique Simonsen. Wirtschaftswissenschaftler Claudio Contador von der Bundesuniversität aus Rio fragt sich, „wie lange es sich die Regierung leisten kann, die Inflation mit hohen Zinsen und einer überbewerteten Landeswährung in den Griff zu bekommen“. Die mehrfach angekündigte Steuerreform zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen lasse auf sich warten, die Privatisierungen hätten bis jetzt nicht mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr eingebracht. Wirtschaftsminister Malan hat die Antwort parat: „Es gibt nur eine Möglichkeit – Ausgaben kürzen.“