"Blavatzkys Kinder" - Teil 32 (Krimi)

Teil 32

„... und deshalb dürft ihr euren Wagen nicht abholen. Meldet ihn sofort als gestohlen. Falls jemand nach uns fragt, sind wir gestern abgefahren, wir wollten jemanden in Hessen besuchen. Ihr wißt nicht, wen – und so gut kennt ihr uns ohnehin nicht. Roberts Auto steht nur bei euch, weil es kaputt ist. Wir holen es offiziell in zwei Wochen ab. Alles klar?“

„Gut, Miriam. Ich schlage vor, daß wir eure Nachnamen gar nicht kennen. Ihr seid von Freunden zu uns geschickt worden und habt nur bei uns übernachtet. Uns Freaks glaubt jeder, daß wir nicht wissen, wie die Leute heißen, die bei uns schlafen. Also.“

Robert lehnte sich zurück. Mehr fiel ihm auch nicht ein. Miriam legte sich auf die breite warme Kaminbank und wachte erst auf, als Reuter mit einem vollen Tablett den Raum betrat und es scheppernd auf einem niedrigen Glastisch abstellte. Sie aßen nicht, sie fraßen.

„Wohnen Sie hier?“ fragte Miriam mit vollem Mund.

„Nein. Ich arbeite in Frankfurt. Lebe mit meiner Familie am Rand von Aschaffenburg. Diese Hütte ist mein Versteck.“

„Versteck vor wem?“

„Wenn mich Job oder Familie nerven.“

Reuter wollte endlich wissen, was ihnen zugestoßen war. Sie sahen sich an. Miriam signalisierte mit den Augen Vorsicht.

„Wir können Ihnen nicht viel sagen. Wir sind bei einem Spaziergang auf eine Gruppe von Leuten gestoßen, die bewaffnet waren und uns verfolgt haben. Mehr wissen wir nicht.“

„War das etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer von hier entfernt, in der Nähe eines großen Gutshofs?“ Miriam sah Robert an und nickte.

„Das wird der Lebenshof sein. Man kriegt hier nichts über ihn raus, obwohl dort viele Leute arbeiten. Ich hab mich schon oft gefragt, was dort eigentlich vor sich geht.“

Später saßen sie zu dritt vor dem Kamin, sahen ins Feuer. Reuter telefonierte und ließ sein Pferd von einem Bauern abholen, bei dem es zur Miete untergestellt war.

„Ich fahre euch zurück nach Frankfurt“, bot Reuter an. Netter Typ, obwohl er Banker ist“, dachte Miriam.

* * *

Miriam eilte an ihren Computer. Sie öffnete eine neue Datei und gab alles, was ihnen widerfahren war, und sämtliche Informationen über den Lebenshof ein. Robert saß hinter ihr und ergänzte, korrigierte. Über manche Daten stritten sie. Schließlich umfaßte ihr Report vierzigtausend Zeichen. Sie rief Paul an.

„Paul? Was ist mit der Versicherung?“

„Sie zahlt. Der Bericht in der Zeitung war nützlich.“

„Bist du untergebracht, oder willst du hier wohnen?“

„Nein, noch geht es hier.“ Er war ungeduldig. „Wie geht's in Franz-Josef-Strauß-Country?“

„Ich beame dir einen Aufsatz rüber. Pack ihn in deine Geheimbox, zeig ihn niemandem. Sieh nur nach, ob du weitere Informationen finden kannst. Wir kommen nicht voran.

Die Leitung funktionierte problemlos. Innerhalb von einer halben Stunde rief Paul zurück. „Wahnsinn. Ich hab's überflogen. Ich werd' was finden. Ich rufe wieder an. Paßt auf euch auf.“

* * *

Es war ihnen gelungen, die Organisation so geschickt zu professionalisieren und sich so zurückhaltend gewisser Elemente aus dem kriminellen Milieu zu bedienen, daß sie bislang jeder strafrechtlichen Verfolgung aus dem Weg gehen konnten. Zugleich wuchs die Armut weltweit ins Unermeßliche, und der Tag war absehbar, an dem die Organisation legale Transplantationszentren einrichten konnte und die Armen freiwillig vor der Tür Schlange standen, weil sie bezahlt und medizinisch professionell behandelt wurden.

Als letzte erstatteten Gates und Deger Bericht. Das gehörte zum Ritual. Gates wetterte über die Konkurrenz, die sich in den USA auftat. Damit hatte er nicht gerechnet, was er aber in diesem Kreis nicht eingestand. Einigen Krankenhäusern in den Staaten war es gelungen, in kürzester Zeit neue Methoden der Organbeschaffung auszutüfteln, mit denen sie immer mehr Erfolg hatten, ohne daß ihnen die Behörden einen Riegel vorschoben. Der Prozeß des Sterbens eines Patienten konnte nun aktiv abgebrochen werden. Selbstverständlich zum Wohle des Patienten und seiner Angehörigen.

„Ha, schöne Worte“, dachte Deger. Sie töten Menschen, während sie sterben. Nichts anderes. Patienten im Koma konnte viel früher die Sauerstoffzufuhr abgedreht werden. Sterben unter Kontrolle. Ordnungsgemäßer Tod mit praktischer Nebenwirkung. Warme, gut durchblutete Organe.

Da die Transplantationschirurgen ständig frische Organe brauchten, war der kontrollierte Tod mit kontrollierter Beendigung der Sauerstoffzufuhr außerordentlich günstig in den Tagesablauf des jeweiligen Krankenhauses einzuplanen. Anders als kontrolliert waren diese Non-heart-beating-cadavers für die Chirurgen nicht brauchbar. Das sogenannte Pittsburger Protokoll mit dem Titel „Umgang mit todkranken Patienten, die nach dem Tod Organspender werden können“, war mittlerweile von etwa sechzig Krankenhäusern übernommen worden. Seitdem stieg die Zahl der verfügbaren Organe. Die Konkurrenz hatte noch keine gefährlichen Dimensionen angenommen. Deger war nicht wirklich besorgt.

Aber es gab immer noch zu wenig Organe. Deshalb war man seit einiger Zeit international damit beschäftigt, die Definition des Todes zu überarbeiten.

Für die Beeinflussung der Öffentlichkeit braucht man die Bioethik, die sich inzwischen weltweit etabliert hatte.

Fortsetzung folgt