Kolumbien in der Krise – Präsident in Not

Kolumbiens Präsident Ernesto Samper kämpft mit allen Mitteln um seine Glaubwürdigkeit. Noch scheint ihn eine breite Allianz zu tragen – die Angst vor dem Präsidentensturz ist stärker als der Vorwurf der Drogenkumpanei  ■ Aus Bogotá Ralf Leonhard

Kein Herumreden mehr. Wir wollen die Wahrheit sehen! Fab zeigt die wahren Farben Ihrer Wäsche.“ Die Waschmittelwerbung im kolumbianischen Fernsehen bedient sich des Vokabulars der politischen Auseinandersetzung – ein deutliches Zeichen, daß die Kolumbianer die Krise mit Humor zu meistern verstehen. Dabei könnte Kolumbien nicht nur kurz vor dem Rücktritt seines Präsidenten Ernesto Samper stehen, sondern vor dem Kollaps des politischen Systems. Aber während die Untersuchungen gegen den brasilianischen Präsidenten Fernando Collor de Mello vor drei Jahren von einer ständigen Massenmobilisierung begleitet waren und die Absetzung des venezolanischen Staatschefs Carlos Andrés Pérez im Jahre 1993 durch die Proteste der Bevölkerung beschleunigt wurde, muß Ernesto Samper bisher den Druck der Straße nicht fürchten. Und das nicht nur, weil Samper äußerst populär ist, sondern auch, weil offenbar die Angst vor der Instabilität stärker ist als das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Daran ändert auch der am vergangenen Mittwoch verhängte „Zustand der inneren Erschütterung“ – eine Art Ausnahmezustand auf Sparflamme – nichts. Im Gegenteil: Verschiedene Umfragen bescheinigen dem Präsidenten mehr als 50 Prozent Zustimmung. Der Verdacht, daß er im Wahlkampf mit dem Drogenkartell von Cali paktiert haben soll, hat die öffentliche Meinung kaum beeinflußt.

Daß der Wahlkampf des Kandidaten der Liberalen Partei von der Drogenmafia mit sechsstelligen Dollarbeträgen unterstützt wurde, gilt als sicher. Die Frage ist nur, ob Samper und seine engsten Mitarbeiter über die Herkunft der Gelder Bescheid wußten oder ob sie Opfer eines Komplotts wurden.

Keine 48 Stunden nachdem Ernesto Samper am 19. Juni 1994 seinen konservativen Rivalen Andrés Pastrana in einer Stichwahl deutlich schlug, tauchte bereits ein inkriminierendes Dokument auf: eine Tonbandkassette, auf der ein Journalist dem Capo des Kartells von Calii, Miguel Rodriguez Orejuela, die Übergabe von Geldern an den Schatzmeister der liberalen Wahlkampagne bestätigt. Die Kassette wurde dem unterlegenen Kandidaten mit ziemlicher Sicherheit von der „Drug Enforcement Administration“ (DEA) zugespielt, der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde.

Das ehrgeizige Sozialprogramm, die Friedensinitiative gegenüber der Guerilla und die Erziehungsreform mußten warten, weil Samper vom ersten Tag seiner Amtszeit an ständig damit beschäftigt war, sich gegen den Vorwurf der Kumpanei mit den Drogenbossen zu wehren. US-Botschafter Myles Frechette warnte in den USA vor Investitionen in Kolumbien, und im Kapitol in Washington wurde die Entsendung schneller Eingreiftruppen zur Bekämpfung des Drogenhandels in Kolumbien diskutiert. Und nur „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ gab Präsident Clinton im März trotzdem die alljährlich fällige Erklärung, daß die Regierung Samper im Kampf gegen die Drogen zufriedenstellend mitarbeite.

Ob es diesem massiven Druck zu verdanken ist, wie die USA meinen, oder ob es seine „souveräne Entscheidung“ war, wie Präsident Samper versichert: keine kolumbianische Regierung hat den Handel und Anbau illegaler Drogen so konsequent bekämpft wie die jetzige. Mit der chemischen Vernichtung von Coca-Feldern in der bis dahin äußerst friedlichen Provinz Guaviare wurden im Dezember blutige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Armee provoziert. Cali, die zweitgrößte Stadt des Landes, wurde militarisiert. Gegen Mitte des Jahres begannen sich die Erfolge einzustellen: von der Festnahme von Gilberto Rodriguez Orejuela, dem obersten Chef des Kartells von Cali, am 10. Juni bis zur Verhaftung von dessen Bruder Miguel am 6. August fielen sechs von sieben Chefs der größten Drogenmafia des Kontinents in die Hände der Sicherheitskräfte. Samper war sich seiner Sache sicher – als die Katastrophe begann.

Just am 27. Juli, an dem US- Vize Al Gore Präsident Samper und Verteidigungsminister Fernando Botero zu den Erfolgen gegen die Drogenmafia beglückwünschte, ließ Santiago Medina, der im Wahlkampf Sampers als Schatzmeister fungiert hatte, eine Bombe platzen: In Erklärungen vor der Staatsanwaltschaft bestätigte er, während der Kampagne einen Scheck über umgerechnet 45.000 US-Dollar von der Firma „Estrella“ in Empfang genommen zu haben. Diese landwirtschaftliche Handelsgesellschaft ist inzwischen als Deckunternehmen des Cali-Kartells enttarnt worden.

Medina, der nach seiner Festnahme ausrief: „Hier gehe ich nicht alleine unter!“, packte im Verhör gewaltig aus. Der Kandidat Samper und sein Wahlkampfleiter Botero hätten nicht nur von den schmutzigen Geldern gewußt, sie hätten ihren Finanzbeauftragten ausdrücklich angewiesen, bei der Drogenmafia um eine Unterstützung der Kampagne zu ersuchen. Mehr als fünf Millionen schmutziger Dollars sollen insgesamt an der offiziellen Buchhaltung vorbei in die Wahlkampfkasse oder auf Privatkonten des heutigen Präsidenten geschleust worden sein.

Unter dem Trommelfeuer der Medien, die die Aussagen Medinas ausführlich abdruckten und in ihren Kommentaren den Kopf des Präsidenten forderten, trat Verteidigungsminister Botero am 2. August zurück: nicht als Eingeständnis seiner Schuld, wie er sagte, sondern um durch den Verzicht auf seine Immunität der Staatsanwaltschaft freie Hand bei den Untersuchungen zu lassen.

Daß Politiker ihren Wahlkampf von der Rauschgiftmafia finanzieren lassen, ist in Kolumbien nichts Neues. Lokalpolitikern, die für ihre Ambitionen auf einen Sitz im Kongreß nicht mit Mitteln der Partei rechnen können, bleibt gar nichts anderes übrig, als bei der Großindustrie oder den Drogenkartellen um Geldspritzen für ihren Wahlkampf nachzusuchen. Und auch sämtliche Präsidenten der letzten zwanzig Jahre, ob nun der konservative Belisario Betancur (1982–1986) oder Sampers Vorgänger César Gaviria, der inzwischen zum Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gewählt wurde, ließen sich von den Kartellen stützen.

Daß die kolumbianische Gesellschaft sich jetzt plötzlich über die möglichen Verstrickungen ihres Präsidenten in Drogengeschäfte entrüstet, hängt mit der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1991 zusammen. Erst im Zuge der damals geführten breiten Debatte mauserten sich die Massenmedien von servilen Instrumenten der politischen Klasse zu gebremst kritischen Meinungsmachern, deren Redakteure davon träumen, einen kolumbianischen Watergate-Skandal aufzudecken.

Und dieser Ehrgeiz investigativer Presse wird von der Staatsanwaltschaft nach Kräften gefördert – um öffentlich Druck zu schaffen, steckt Vizestaatsanwalt Salamanca alle neuen Erkenntnisse der Presse. Da aber auch in Kolumbien die Unabhängigkeit der Medien dort endet, wo die Interessen des Herausgebers beginnen, verhalten sich die Publikationen unterschiedlich. Während die Zeitungen der Familie Pastrana und das von einem Intimus des Ex-Präsidenten Gaviria geleitete Wochenmagazin Semana aus vollen Rohren gegen den Präsidenten schießen, hält die Tageszeitung El Espectador, die dem von Samper verkörperten modernen Liberalismus verpflichtet ist, dem Staatsoberhaupt die Stange. Und die Redaktion von El Tiempo, der größten und einflußreichsten Zeitung, ist gespalten. Der Loyalität des Direktors Hernando Santos dem Präsidenten gegenüber stehen die persönlichen Ambitionen seiner Söhne gegenüber. In Semana hieß es, Ex-Präsident Gaviria betreibe – freilich nicht ohne eigene Ambitionen, den Sturz Sampers. Vizepräsident de la Calle, der laut Verfassung die Regierungsperiode zu Ende führen müßte, würde dann eine Änderung des Grundgesetzes durchsetzen, das bislang die Wiederwahl verbietet.

Doch ist umstritten, ob der Vizepräsident, der schließlich sein Amt denselben schmutzigen Geldern verdankt, die nötige Legitimation hätte. Muß auch er den Hut nehmen, dann liegt es am Senat, einen neuen Vizepräsidenten zu ernennen, der bis 1998 die Staatsgeschäfte zu führen hätte. Abgesehen davon, daß das Oberhaus des Kongresses moralisch umstritten ist, da auch gegen eine Anzahl der Senatoren wegen der Annahme von Drogengeldern ermittelt wird, verspricht diese Lösung Chaos und Instabilität – und damit haben alle Generationen Kolumbiens ihre Erfahrungen.

So glauben die meisten lieber den Unschuldsbeteuerungen des Präsidenten, als eine Abrechnung bis zur letzten Konsequenz zu fordern. Auch in den intellektuellen Zirkeln, wo die Krise seit Wochen die Debatten beherrscht, war bis vor kurzem das Prinzip „in dubio pro Samper“ vorherrschend.

Die Wahrscheinlichkeit, daß Samper den Skandal überlebt, ist groß. „In einem Land, wo nicht mehr als drei von hundert Verbrechen eine Verurteilung nach sich ziehen, wäre es erstaunlich, wenn er stürzen würde“, meinte ein lateinamerikanischer Diplomat, „zumal ihm schuldhaftes Verhalten schwerlich nachzuweisen ist.“ Die gefangenen Bosse des Cali-Kartells jedenfalls bestreiten, Samper finanziert zu haben.

Außerdem hat sich der Präsident durch eine kaum zu überbietende Allianz abgesichert. Im Rahmen des „Abkommens gegen die Gewalt“ sind die Wirtschaftsbosse, für die ein Einbruch der Börsenkurse und das Absacken der Währung bereits deutliche Warnsignale sind, ebenso zum Schulterschluß angetreten wie die US-Regierung, die zwar die Krise mit ausgelöst hat, nach der Zerschlagung des Cali-Kartells jedoch die Bremse gezogen hat. Und als Samper letzte Woche mit der Verhängung des Ausnahmezustands in die Offensive ging, da konnte er nicht nur mit dem Rückhalt seiner eigenen Partei und des Großteils der Opposition rechnen. Ihn unterstützen auch Unternehmer, Gewerkschaften, die staatlichen Institutionen, die Kirche – und die Armee.

Offizielles Motiv für den Ausnahmezustand ist die Gewalt. In einem Land, in dem laut Innenminister Serpa allein in diesem Jahr fast 20.000 Menschen durch Gewaltakte ums Leben gekommen sind und über 700 verschleppt wurden, sei es an der Zeit, energisch einzuschreiten. Eine blutige Guerilla- Attacke in der südöstlichen Urwaldprovinz Guaviare, ein Massaker paramilitärischer Verbände an achtzehn Bauern in der Nordwestregion Urabá und der Ausbruch zweier Guerillakommandanten, die sich aus dem Gefängnis freikauften, rechtfertigen seiner Meinung nach drastische Maßnahmen. Samper kündigte die Erhöhung des Strafmaßes für Gewaltverbrecher, korrupte Funktionäre und minderjährige Straftäter sowie eine Initiative zur Wiedereinführung lebenslänglicher Haftstrafen an, verstärkte die Militärpräsenz in den Guerilla-Hochburgen und verlegte einen Teil der Polizei-Spezialtruppen, die sich gegen des Kartell von Cali bewährt haben, nach Bogotá: „zu einer chirurgischen Operation“ gegen die hiesige Mafia.

Für den Menschenrechtsanwalt Gustavo Gallón, den Vorsitzenden der kolumbianischen Sektion der „Andinen Juristenkommission“, hat Samper mit dem Ausnahmezustand seinen politischen Kredit verspielt: „nicht wegen der verschiedenen Maßnahmen, die auf uns zukommen, sondern weil dieser Schritt eine Wende von 180 Grad bedeutet: von der Öffnung für einen Dialog mit den Aufständischen zur Repression“. So gut wie tot sei der noch am 18. Mai groß angekündigte Friedensprozeß und die Idee der Verhandlungen mit den kommunistischen „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ (FARC). Carlos Holmes Trujillo, der Beauftragte der Regierung für den Frieden, warf bereits Ende Juli das Handtuch – die Militärs, die jede Konzession an die Guerilla ablehnen, haben endgültig die Oberhand gewonnen.

Vor einem Monat noch hatte Ernesto Samper aufmüpfige Generäle mit den starken Worten „Hier befehle ich“ zur Ordnung gerufen, und vor ein paar Monaten anerkannte er gegen die Proteste der Militärs die Verantwortung der Regierungskräfte für ein mehrere Jahre zurückliegendes Massaker in der Stadt Trujillo. Damit ist es jetzt vorbei: Vor wenigen Tagen dekorierte der Generalstab – mit Billigung des Staatschefs – General Alvaro Velandia, einen notorischen Menschenrechtsverletzer, der von der Staatsanwaltschaft des Mordes an einer Guerillera für schuldig befunden und vom Dienst suspendiert worden war.