„... daß nichts auf der Welt zählt wie Freunde“

Menschliche Wärme, streitbare Solidarität: Der Briefwechsel Hannah Arendts mit dem zionistischen Politiker Kurt Blumenfeld zeigt die größte politische Philosophin des Jahrhunderts als Schülerin in praktischer Politik  ■ Von Ekkehart Krippendorff

„Briefe“, bemerkte Goethe anläßlich seiner Herausgabe von Winckelmanns Briefen 1805, „gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch.

Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlaß als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los, und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustandes sind solche losen Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn kam.“

Eben das macht auch die Lebendigkeit der Korrespondenz Ahrendt–Blumenfeld aus, daß beiden Briefpartnern es sicher nicht im Traum eingefallen wäre, ihre Korrespondenz eines Tages mit wissenschaftlicher Akribie ediert zu sehen, ging es ihnen doch in ihren schriftlichen Unterhaltungen in der Tat immer nur um den „Augenblick“ und gewiß um keine „Folgezeit“.

Hannah Arendt bedarf keiner Vorstellung mehr: Ihre ständig wachsende Lesergemeinde dürfte auch vor allem der erwartete Adressatenkreis des Buches sein – weniger hingegen diejenigen, die sich für den Zionismus und einen seiner wichtigen Repräsentanten interessieren: eben für Kurt Blumenfeld. Einen wegen seiner ganz und gar nicht karrieristischen Orientierung „ungewöhnlichen Funktionär“ nennen ihn die Herausgeberinnen: Geboren 1884, wie Arendt in Ostpreußen aufgewachsen – aber im Unterschied zu ihr schon als junger Student aktiv in jüdischen Vereinigungen, bald überzeugter und engagierter Zionist und anscheinend ein faszinierender und brillanter Gesprächspartner und öffentlicher Redner: So lernte ihn die zwölf Jahre jüngere Studentin Arendt 1926 in Heidelberg kennen und wurde tief und dauerhaft von ihm beeindruckt und beeinflußt. Fast dreißig Jahre später, auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ruhms, schreibt Hannah Arendt an Kurt Blumenfeld: „Du weißt, ich habe nie ,Schüler‘ sein können, aber soweit ich es je darin gebracht habe, bin ich in der Judenfrage und mehr als das, in der Politik deine Schülerin. Was ich damals und später gelernt habe, habe ich nie vergessen und werde es nie vergessen. Bei dir ist mir Politisches überhaupt zum ersten Mal und unentreißbar lebendig geworden.“

Damals und bis 1933 war Blumenfeld Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland; er war es vor allem, der Arendt die Augen öffnete für das politische Potential, das im Antisemitismus steckte, und für ihn suchte sie nach der Machtergreifung jenes Material zusammen, das sie kurzfristig ins Gefängnis, aber gleich darauf, derartig gewarnt, in die Freiheit der Emigration brachte. Blumenfeld traf sie Anfang der vierziger Jahre in New York wieder, danach nur noch wenige Male kurz, weil er 1945 fest nach Palästina/Israel gegangen war. 125 Briefe wechselten die beiden bis zu Blumenfelds Tod 1963. Wer da Aufregendes, Grundsätzliches für die Nachwelt, die „Folgezeit“ Geschriebenes erwartet, der wird eher enttäuscht sein: Es ist da nur noch der Nachhall einer intensiv gelebten Beziehung und von produktiv konfliktreichen Auseinandersetzungen zu erleben. Das meiste wird nur noch angedeutet, nicht mehr ausdiskutiert – aber die Herausgeberinnen geben reichlich und immer zuverlässige Hilfestellung in ihren Anmerkungen.

Und doch: Welch ein Nachhall! Ich gestehe, ich habe das Buch wie einen spannenden Roman gelesen und mich zwischendurch immer wieder gefragt, wieso ich mich eigentlich plötzlich für so Nebensächliches wie die Krankheiten der Verwandten und Freunde, für Reisepläne und die höchst subjektiven Urteile über mir oft ganz unbekannte Menschen interessierte und gar nicht aufhören wollte, diesem ganz persönlichen Gespräch weiter zuzuhören.

Es ist vor allem der Ton, es sind die menschliche Wärme und die streitbare Solidarität zweier alles andere als unkomplizierter Menschen, die geheime Musikalität und Sensibilität des Umgangs miteinander, die dem Begriff der Freundschaft eine Würde verleihen, wie sie nur selten vorkommt, und an der wir uns selbst auch kritisch messen sollten.

„Man lernt nichts, aber man wird gebildet“, bemerkte Goethe über Winckelmanns Schriften in einem anderen Zusammenhang – und so mag es einem auch bei der Lektüre dieser Korrespondenz gehen.

Aber natürlich ist das Buch auch für diejenigen, denen vor allem an einer „wissenschaftlichen“ Auseinandersetzung mit dem Zionismus, mit Arendt, mit jüdischen Fragen gelegen ist, eine Art Quelle, die erschlossen zu haben dem Verlag und den Herausgeberinnen großer Dank gebührt. Vor allem letztere haben hier eine bewunderswerte Kleinarbeit geleistet, die weit über das fachlich Übliche hinausgeht; und dies sollte wohl auch als Ausdruck liebevoller Identifikation mit dem Gegenstand, der geheimen Voraussetzung jeder wahren Wissenschaft, gewürdigt werden.

Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld: „... in keinem Besitz verwurzelt. Die Korrespondenz“. Hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling. Rotbuch Verlag 1995, 409 Seiten, geb., 48 DM