Aus dem Zentrum des Grauens

■ Die Grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck war in Tuzla / Gespräche mit Flüchtlingen aus Srebrenica / Von 15.000 kamen 5.000 an

Ist es der Vorhof der Hölle oder ist es schon die Hölle selbst, von der die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck berichtet? Marieluise Beck war in der vergangenen Woche im bosnischen Tuzla. Zweck der Reise: Aufklärung darüber, was aus den Menschen geworden ist, die drei Jahre lang in der Enklave Srebrenica eingekesselt waren, ohne Strom, fast ohne Versorgung von außen, die sich verlassen haben auf die UNO, die die Enklave zur Schutzzone erklärt hatte – und am Ende doch den bosnisch-serbischen Eroberungstruppen ausgeliefert worden sind. Schutzlos.

Marieluise Beck hat eine Reihe von Gesprächen mit MitarbeiterInnen der UN-Organisationen und der privaten Hilfsdienste geführt, und sie hat mit zwei ZeugInnen gesprochen, deren Aussagen Aufschluß über das Schicksal von tausenden von Menschen geben. Diese Aussagen hat die Grüne ausfgeschrieben. Die taz faßt zusammen:

Adil B. war Student der Geophysik in Sarajevo. 1992 wurde er gemeinsam mit seiner Frau, einer Krankenschwester, aus seinem Heimatort in die Enklave Srebrenica vertrieben, dort hausten die beiden bis zum Angriff der Tschetniks Anfang Juli. Nicht alle Bosnier in der Enklave hatten ihre Waffen abgegeben, erzählt er. Gerade diejenigen, die schon einmal Vertreibung erlebt hatten, haben Waffen zurückgehalten. Als die Tschetnik-Truppen zusammengezogen wurden, versuchte die UN-Schutztruppe, die BosnierInnen zu beruhigen. Sobald es zu einem Angriff käme, würde die UNPROFOR mit Luftschlägen antworten. Doch als es zum Angriff kam, blieb die Reaktion aus, und die UNO-Truppen zogen sich zurück.

Als die Tschetniks schließlich nahezu die ganze Enklave erobert hatten, brach unter der bosnischen Bevölkerung Panik aus. Die Menschen teilten sich in zwei Gruppen: Die eine, vor allem Frauen, Alte, Kinder ging zum UN-Stützpunkt Potocari. Etwa 3.000 wehrfähige Männer hatten die Kranken und Verletzten aus den Hospitälern geholt, auf den UN-Stützpunkt gebracht und waren im Vertrauen auf den Schutz durch die UN auf der Basis geblieben. Die andere Gruppe sammelte sich zur Flucht durch die Linien der Angreifer. In der ersten Gruppe war Frau B., in der zweiten ihr Mann.

Der erzählt von einem Treck von etwa 15.000 Menschen, zumeist Männer und Frauen und Kinder, die nicht an den Schutz der UN glauben wollten. Der Treck wollte in Richtung Tuzla durchbrechen, fast ohne Vorbereitung, fast ohne Vorräte. Gleich am ersten Tag wurde der mehrere Kilometer lange Zug mit Granaten angegriffen, die ersten Flüchtling starben. Als der Treck eine von Tschetniks kontrollierte Straße überquerte war er wegen der vielen Verletzten nicht schnell genug: rund 5.000 Menschen wurden abgeschnitten.

Die übriggebliebene Gruppe ging weiter in die Berge. Als sie auch dort mit Granaten beschossen wurde, flohen die Menschen in die Wälder. Sie wurden auseinandergerissen. Als sich die Gruppe wieder sammelte, waren es nur noch 5.000 bis 6.000 Menschen. Viele drehten durch, weil sie ihre Familienangehörigen vermißten, erzählt Herr B. Die meisten Kinder seien verlorengegangen, weil sie nicht schnell genug laufen konnten.

Nach einem Tag Pause in den Wäldern zog der Treck weiter. Eine Nachhut blieb zurück, um auf die versprengten Flüchtlingsgruppen zu warten. Auf sie stieß eine Gruppe von neun Männern, die erzählten, daß sich der größte Teil der abgesprengten Gruppe den Tschtniks ergeben hätte. Diese Menschen, meist Frauen, Kinder und Alte, seien abgeführt worden. Als die Nachhut die Hauptgruppe wieder erreicht hatte stieß ein Mann dazu, der unter den zuerst abgesprengten 5.000 gewesen war. Er war von den Tschetniks gefangengenommen und mit rund 1.000 anderen Männern in den Ort Kuslat gebracht worden. Dort hatten sich die Männer in einer Reihe aufstellen müssen. Eine Massenhinrichtung. Als die Schüsse fielen hat er sich einfach fallen lassen. Als die Tschtniks weg waren, konnte er fliehen.

Insgesamt sechs Tage war der Treck unterwegs. Der Granatenbeschuß hörte nicht auf – die Kämpfe mit den Tschetnik-Truppe dauerten an. Von den 15.000 Menschen, die in Srebrenica losmarschiert sind, kamen nur etwa 4.000 bis 5.000 in Tuzla an. Ein Teil der verlorengegangenen Menschen wurden gefangengenommen, ein Teil wurde erschossen, ein Teil ist verschollen. Vieles deutet darauf hin, daß viele Flüchtlingsgruppen noch in den Wäldern umherirren. 38 Tage nach dem Exodus kamen zwölf Kinder im Alter zwischen 8 und 15 Jahren ohne Begleitung in Lukavac an.

Unterdessen war Frau B., eine ausgebildete Krankenschwester, mit den meisten Alten, Kranken und Kindern in den UN-Stützpunkt nach Potocari geflüchtet. Es waren etwa 25.000 Menschen. Es gab zwei UN-Lager – eins in Potocari und eins in der Vorstadt von Srebenica bei der Textilfabrik Vezionica. Die Blauhelme schickten die Menschen von Vezionica nach Potocari, weil sie dort nicht sicher seien. Als sich die Menschen von dort auf den Weg machten, wurden sie mit Granaten beschossen. Es gab viele Tote. Viele Leute sind in ihren Häusern geblieben, weil sie große Angst hatten. Potocari selbst und die Wiesen drumherum waren voll von Granaten. Medecin sans frontiere führte Frau B. und die Verwundeten in das Lager. Den ganzen Tag haben die Leute gewartet. Gegen 15 Uhr kamen Tschetniks und wollten in das Camp. Die UN hat sie reingelassen und die Tschetniks haben Menschen beschimpft und nach bosnischen Soldaten gefragt. Am Morgen des 12. Juli kam General Mladic. Er brachte Soldaten und ein Kamerateam mit. Sie haben Brot und Schokolade an das Volk verteilt. Mladic hat gesagt, sie seien sicher, und sie sollten sich keine Sorgen machen. Sie würden transportiert werden.

Danach haben sie selektiert. Männer wurden mit LKWs in eine unbekannte Richtung weggeführt. Dann haben sie mit der Evakuierung der Frauen angefangen. Goldringe und Ketten wurden den Frauen weggenommen. Die Tschetniks haben gesagt, sie werden die Kinder schlachten, wenn sie noch Geld finden. In der Nacht vom 11. auf den 12. waren viele Tschetniks betrunken, sie waren lustig und haben gesungen. Sie haben schon mit den Schlachten begonnen. Meine Frau hat die Schreie von anderen Frauen gehört.

Eine Frau war in ihr Haus zurückgegangen, um Wasser zu finden. als sie zurückkam, waren ihre Schuhe voller Blut. Auch hinter dem Camp lagen viele Leichen. Die Leichen wurden auf einen LKW geladen und fortgefahren, in eine unbekannte Richtung. Am 12. Juli startete man mit der Evakuierung der Menschen außerhalb des Camps. Auch ältere Männer und Knaben wurden von den Tschetniks malträtiert. Die UN-soldaten hielten sich in den Schutzräumen auf, als mit Granaten geschossen wurde. Die Verletzten und Verwundeten mußten in Potocari zurückgelassen werden. Nur zwei von ihnen kamen später in Tuzla an. Am 13. Juli wurde meine Frau evakuiert mit Tschetnik-LKWs und Bussen. Zurück blieb nur noch ein Konvoi.

Die Blauhelme sicherten die Transporte nicht. Nur im ersten Konvoi waren Blauhelme mitgefahren. Jede halbe Stunde wurde der Konvoi gestoppt, und die Mädchen wurden herausgeholt. Außerdem wurde der Konvoi ausgeräubert.

Spät nachmittags sind sie an der Frontlinie bei Kladanj angekommen, dort konnten sie gehen. Die Frauen hatten versucht, sich zu maskieren. Sie haben den jungen Mädchen Kopftücher umgebunden. Alle, die enge Hosen oder kurze Röcke anhatten, wurden von den Tschetniks weggeführt. Aus einem LKW wurden zwei Mädchen weggeführt. Später kamen sie wieder. Eins der Mädchen hat sich dann in Tuzla aufgehängt, sie konnte die Scham nicht ertragen.

Am 18. Juli trafen sich Herr und Frau B. wieder. Von ihrer Familie fehlen noch 19. Familienangehörige. aufgeschrieben von J.G. und kes