■ Plädoyer für eine Türkei, die verschiedene Identitäten anerkennt. Minderheitenrechte sind Teil der Bürgerrechte
: Erfahrungen statt Belehrungen

Lieber Zafer Șenocak,

„Gut gebrüllt, Löwe“, möchte ich sagen, wenn ich lese, für welche Positionen Du in Deinem offenen Brief an mich streitest. Du wendest Dich gegen ein verengtes Denken in ethnischen Kategorien – ganz meine Position. Du erklärst, in einem modernen Staat darf es nur um Bürgerrechte gehen, aber niemals um ethnische Fixierungen – finde ich auch, verbunden mit dem kleinen Zusatz, daß es um BürgerInnen- und Menschenrechte gehen muß. Über weite Strecken liest sich Dein Brief so, als wolltest Du einen bekennenden Vegetarier vom Verzicht auf Fleischkonsum überzeugen. Das Eintreten für gleiche Überzeugungen bedingt jedoch nicht die gleichen Konsequenzen, und eine richtige Teildiagnose ist noch keine Medizin.

Belehrungen kommen gegen Erfahrungen nicht an, und solange diese Gesellschaft keine weitergehenden Signale für die Zugehörigkeit der Eingewanderten zu diesem Land setzt, so lange die Eingewanderten nicht gleichzeitig offensiver ihre Zugehörigkeit einfordern, so lange wird es eine große Zahl von entfremdeten Menschen geben, die Halt in ethnizistischer, islamistischer oder auch nationalistischer Sektiererei suchen. Nationalismus ist dabei nicht immer ethnizistisch begründet, sondern kann auch auf einer Staatsideologie beruhen, die, wie in der Türkei, Multikulturalität zwanghaft leugnet.

Kulturelle Rechte und Minderheitenrechte sind ein Teil der BürgerInnenrechte in einer multikulturellen Gesellschaft. Erst wenn sie beanspruchen, andere BürgerInnenrechte außer Kraft zu setzen oder auch nur zu dominieren, werden sie zu nationalistischem bzw. ethnizistischem Unrecht. Das Problem ist also nicht ein ethnisches Bewußtsein an sich, sondern seine menschenrechtsfeindliche und dadurch entwertende Übertreibung. Solcherart entwertende Übertreibungen finde ich in Deinem Brief leider zuhauf.

Meine von Dir wiedergegebenen Zitate stimmen und sind auch nicht ohne weiteres falsch zu verstehen. Die Tatsache, daß ich auf die ethnische, religiöse und soziale Pluralität der Menschen aus der Türkei hinweise, belegt nur, daß die von Nationalisten übersteigerte türkische Staatsideologie purer Nonsens ist – und ebenso der Versuch, hierzulande mit der sogenannten Türkenpartei einen Ableger dieser Ideologie zu etablieren. Die Wahrnehmung ethnischer Pluralität ist die Feststellung einer Tatsache und stempelt einen noch lange nicht zum „Völkischen Beobachter“ – ein wirklich schäbiger Vergleich in diesem Zusammenhang. Sie beinhaltet auch nicht, wie Du unterstellst, den Anspruch auf Eigenstaatlichkeit jeder ethnischen Minderheit oder eine Rechtfertigung des Ethnizismus.

Woher die Zahl von „500.000 kurdischstämmigen Bürgern“ in Deutschland stammt? Du kannst die Angabe glauben oder nicht. Nachlesen kannst Du sie jedenfalls in den offiziellen Verlautbarungen des bundesdeutschen Innenministeriums. Wie viele es in der Türkei sind, erfährst Du im jüngst veröffentlichten Ostanatolien-Bericht des türkischen Handels- und Börsenvereins. Diese Tatsachenfeststellungen erfordern keine „anatomische Schädelvermessung“.

Die Herkunft bzw. die Abstammung aus der Türkei ist für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer Identität – für Dich vermutlich nicht weniger als für mich. Es ist aber nur einer von mehreren Teilen unserer Identität, die von einer Vielzahl weiterer Zugehörigkeiten ebenso beeinflußt wird wie von unserem ganz persönlichen Schicksal. Ich wehre mich deshalb nicht nur gegen die ethnische, sondern auch gegen die nationalstaatliche Fixierung von Menschen.

Bei der Integration der EinwanderInnen aus der Türkei in die „Bunte Republik Deutschland“ könnten die Aleviten wegen ihrer laizistischen und mehrheitlich vorbildlich demokratischen Gesinnung eine Schlüsselrolle spielen – nicht zuletzt auch, weil unter ihnen nicht nur ethnische TürkInnen, sondern auch mehr als nur „einige“ KurdInnen sind. Du bezeichnest die Aleviten als „besonders staatstragende Schicht“ in der Türkei. Sie könnten es sein, wenn ihre Diskriminierung aufgehoben würde. Gerade weil man über sie in den offiziellen Lehrbüchern praktisch nichts erfährt und der Kenntnisstand in weiten Bevölkerungskreisen der Türkei über das Reich der Legende nicht herausreicht, konnten die an Aleviten verübten Massaker in Maras, Sivas oder jüngst im Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpasa stattfinden. Ich wünsche mir, wie vermutlich auch die schweigende Mehrheit in der Türkei, keine Spaltung, sondern eine den Realitäten angepaßte Türkei: Eine moderne Charta, einen Konsens, der alle Menschen in der Türkei unter einem Dach vereint. War es nicht Özal gewesen, der vorschlug, die Republik Türkei in Anatolische Republik umzubenennen? So weit gehe ich nicht. Das Land soll weiter Türkei heißen, aber unter Anerkennung der vorhandenen Identitäten!

Du redest von tiefsitzendem ethnisch-völkischem Denken gerade in den Köpfen der Grünen und behauptest zudem, Teile der Grünen seien dafür anfälliger als die bürgerlichen Volksparteien. Hier scheint mir Deine Enttäuschung oder Dein Ärger über einzelne Mitglieder generalisiert worden zu sein. Ich behaupte nicht, daß Mitglieder oder RepräsentantInnen der Grünen grundsätzlich die besseren Menschen sind und einzelne immer wissen, was sie sagen, wenn sie entindividualisierend vom „Befreiungskampf der Völker“ sprechen. Das ist aber gewiß nicht dümmer als Kinkels Gerede von den Kurden, die sich in einer Weise aufführten, die nicht hinnehmbar sei. Unter dem Strich sind Bündnis 90/Die Grünen – um mit Heiner Geißler zu sprechen – mit Sicherheit „die besseren Liberalen“. Keine andere Partei setzt sich so konsequent für die Überwindung nationalsozialistischen Gedankenguts in Recht und Gesellschaft ein. Wir haben im Bundestag als einzige einen Entwurf zum Staatsangehörigkeitsrecht eingebracht, der internationalem Vergleich standhält, und wir haben – bisher ebenfalls als einzige – einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt, das in einer sozialverträglichen Weise den Status dieses Landes als Einwanderungsland definiert und sichert.

Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum sich Menschen guten Willens und gemeinsamer Grundüberzeugungen gegenseitig verschleißen und dazu beitragen sollten, daß die EinwanderInnen in diesem Land weitere vierzig Jahre auf die rechtliche und soziale Gleichstellung warten müssen. In diesem Sinne, denke ich, sollten wir uns in den nächsten Wochen unbedingt mal zusammensetzen. Cem Özdemir