Kinderkreuzzug an die Urne

Ob 3 oder 103: Eine Berliner Initiative fordert das Wahlrecht für alle. Rainer (13) und Benjamin (16) wollen heute in Karlsruhe ihre Verfassungsbeschwerde begründen  ■ Aus Berlin Annette Rogalla

In Prenzlauer Berg, mitten in Berlin, wird die Revolution vorbereitet. In einer proper modernisierten Ladenwohnung sitzen zehn Kids zwischen 13 und 25 um einen Holztisch, trinken Eistee und falten Pressemappen zusammen. Heute ist Tag X: Sue, Juliane, Christoph, Benjamin, und Rainer werden der Republik bekanntgeben, wie sie sich die grundlegende Veränderung vorstellen. Wahlzettel für alle! fordern sie. Ob 3 oder 103 – wählen dürfen soll jeder, der eine Wahlkabine erreicht. Hauptsache, er macht sein Kreuzchen selbst. Ein Mensch – eine Stimme. Dafür gehen die Ostberliner Kids auf die Barrikaden.

Sie meinen es ernst. Heute legen sie dem Bundesverfassungsgericht ihre Forderung nach dem Wahlrecht für alle vor. Der 13jährige Rainer Kintzel und Benjamin Kiesewetter, 16, beschweren sich, ihnen werde das Wahlrecht vorenthalten. In ihrer Begründung berufen sie sich auf Artikel 20: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Von dieser Gemeinschaft wollen Rainer, der als Punk durchgehen könnte, und Benjamin mit den langen Hippie-Haaren, nicht länger ausgeschlossen sein.

Daß Politiker in einigen Bundesländern bereits dabei sind, das Alter für Kommunalwahlen auf 16 herabzusenken, kommentieren die beiden mit einem müden Grinsen. „Keine echte Chance“, sagt Benjamin. Heute seien 16jährige in ihrer Entwicklung viel weiter als noch vor zehn Jahren die 18jährigen. „Und wenn die 16jährigen wählen dürfen, warum nicht auch ich?“ fragt Rainer. Schließlich sei er auch von politischen Entscheidungen betroffen: „Umweltzerstörung betrifft mich viele Jahre mehr als die Politiker.“ Für ihn und seine Freunde von der Gruppe KinderRÄchTsZÄnker (KRÄTZA) ist klar, daß die Jungen heute mehr über den Zustand der Welt wissen als die unsterblichen Achtundsechziger. Und sie wollen mehr als diese tun, um sie zu retten.

Natürlich haben sie sich stundenlang die Köpfe darüber zerbrochen, wann der Mensch reif für den Urnengang ist. Heraus kam die Einsicht: „Alter ist keine Garantie für die Urteilsfähigkeit“. Schnell ist aufgezählt, daß die Hälfte der Erwachsenen nicht zwischen Erst- und Zweitstimme zu unterscheiden weiß. Wer wolle sagen, ob ein 90jähriger verwirrter Mensch noch die nötige Wahl-Reife besitzt? „Ich bin genausoviel wert wie die“, sagt Sue. Jedem stehe frei, zur Wahl zu gehen. „Wir fordern das Recht, nicht die Pflicht.“

Die Liste derer, die die Verfassungsbeschwerde unterstützen, ist lang. Bettina Wegner, die mit dem Kinderlied von den kleinen Händen einst die halbe Republik zu Tränen rührte, hat unterschrieben, Jugendforscher Klaus Hurrelmann ist dabei, und auch Jens Reich schickte eine Grußnote: „Ich bin dafür, daß jeder Mensch, gleichgültig welchen Alters oder welcher Herkunft, das volle aktive und passive Wahlrecht erhalten soll, wenn er sein Lebenszentrum in unserer Republik hat.“ Nicht nur ehemalige Aspiranten für das Amt des Bundespräsidenten zählen zum Unterstützungskomitee. Thomas Krüger (SPD), prominenter Ex- Jugendsenator von Berlin, sorgt dafür, daß die Kids die Kosten der Verfassungsbeschwerde tragen können. Das Deutsche Kinderhilfswerk, dessen Präsident er ist, übernimmt ein Drittel der Anwaltskosten.

Fahren die Unterstützer nicht eine plumpe Anbiederungstour bei jungen Leuten? Beschwerdeführer Benjamin kann gut mit dem Vorwurf leben. „Hauptsache, es hilft, aus der Ohnmacht herauszukommen.“ Nichts tun können ist schlimmer als mutmaßlicher Eigennutz von Politikern.

Die Gruppe aus Prenzlauer Berg ist rigoros. Wählen heißt für sie: „Ich wähle jemanden, der meine eigenen Interessen am besten vertritt.“ Sehr rasch, so ihre Hoffnung, würden sich Politiker auf die neue Klientel einstellen. Immerhin ist jeder fünfte in Deutschland jünger als 18. Endlich wäre alles da: die Spielstraße, der Platz im Hort, die Schule, die Kinder mögen, in jedem Stadtteil ein Techno-Schuppen.

Ob die Verfassungsbeschwerde angenommen wird, bezweifelt Thomas Krüger. Aber die Diskussion, die sie auslösen wird, sei spannend. Ein Mindestwahlalter müsse allerdings sein, sagt der Ex-Jugendsenator. Die Jüngeren könnten in Kinderparlamenten die ersten Erfahrungen mit der Politik machen. Und die hat Benjamin längst hinter sich. Ein Jahr ging er in Krügers Büro ein und aus – als Mitglied der Gruppe „Kids beraten Senator“. Benjamin: „Eine ziemliche Alibischeiße war das. Man bekam Gummibärchen und durfte ein bißchen reden.“