Sein und Zeit Von Halina Bendkowski

Ich weiß nicht, was das Gerede von der Freizeitgesellschaft soll. Niemand hat Zeit. Alle haben zu tun. Alle klagen über zuviel Arbeit und finden den Dauerstreß insgeheim teuflisch gut.

Dabei wäre es an der Zeit, ein Loblied auf diejenigen zu singen, denen ohne Erwerbsarbeit nicht die Laune vergeht. Eigentlich müßte heute das ,Aussteigertum‘ propagiert werden. So falsch der Begriff schon damals war, als er in den frühen 80ern mediale Schleifen drehte, so richtig wäre es eine Dekade später, sich ernsthaft Gedanken zu machen um diejenigen, die nicht mitfeilschen können oder wollen. Allerdings ohne sie ins Aus zu befördern.

Je mehr von der Individualisierung der Gesellschaft behauptet wird, sie fände statt, desto mehr werden alle dem gleichen Leistungswahn untergeordnet. Befreiung von der Ellenbogengesellschaft verspricht zur Zeit nur die Fluggesellschaft Air France ihren Erste-Klasse-KundInnen. Wer sich diese Freiheit nicht leisten kann, be- und verengt sich in der Zweiten-Klasse-Gesellschaft. Keine Zeit zu haben, ist der VIP- Ausweis für Wichtigkeit und Tüchtigkeit. Den anderen bleibt das Fernsehen. Nur dort sieht man immerzu Menschen, die schwer zu tun haben, die entweder Abenteuer bestehen, sich leidenschaftlich lieben, Sex miteinander haben oder sich in Talkshows wichtig machen.

Auf jeden Fall sieht man im Fernsehen niemals Menschen, die fernsehen.

Die Arbeit der meisten Menschen besteht aus einer Acht-Stunden-Fron, die im Fernsehen selbst keinerlei Stoff zur Unterhaltung böte. Sicher, das allgegenwärtige Mobbing wird zwar auch im Fernsehen dauerabgehandelt, aber meistens nur an Fällen, die schon aus dem Arbeitsleben gefallen sind. Und je mehr sie über ihre realen Probleme am Arbeitsplatz auspacken, desto mehr können sie einpacken. Denn belastungsfähig muß man schon sein. Man darf sich keine Blöße geben, weil es immer liebe KollegInnen zuhauf gibt, die besser sind – und einem garantiert nicht helfen, weil sie sich verbessern wollen. Achtunggebietend schwillt dann die Rede vom Ehrgeiz, mit dem man die Probleme anzupacken hat. Da die meisten aber die soziale Deklassierung noch mehr fürchten als die psychologische Demontage, gebärden sie sich dümmer als sie sind. Lieber nicht aufmucken.

Das kostet Lebensenergie en masse und vergiftet wiederum die Freizeit, die viel zu kurz ist, um sich zu erholen. Kein Wunder also, daß den Menschen nach langen Wochenenden und Ferien so vor der Arbeit graut. Genauso wie sie umgekehrt längere Freizeiten fürchten, die ihnen Gedanken bescheren, die nicht arbeitskompatibel sind. Um so heftiger grenzen sie sich dann vom arbeitslosen Pack ab, das nicht so arbeiten kann oder will wie sie.

Die Erwerbslosen, abgestürzt in die Drittklassigkeit, haben überhaupt keine Freizeit. Die wenigsten von ihnen können nüchtern die Schmach ertragen, Zeit zu haben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle unendlich viel Zeit haben: weil sie permanent arbeiten. Allein die Erwerbslosen – die theoretisch viel Zeit hätten –, haben weder Zeit noch Arbeit. Denn allein der erhält Zutritt zur „Freizeitindustrie“, der Arbeit beziehungsweise Dauerfreizeit hat.