„Es ist besser, klein zu bleiben“

Sie sind abenteuerlustig und hilflos. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt selbst und freuen sich über Legosteine. Die Straßenkinder von St. Petersburg  ■ Von Peter Dammann

Sechs Wochen war Anton mit Sergej unterwegs. Die Kinder wollten in den Krieg. Sie fuhren mit der Bahn von St. Petersburg in den Kaukasus. In Mineralnyje Wody, einer Stadt, 200 Kilometer von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entfernt, blieben sie hängen. Die Weiterfahrt wurde ihnen verboten. Sie schleppten Steine auf einer Baustelle, um sich ihr Essen zu verdienen; weil sie Flöhe hatten, schnitten die Bauarbeiter ihnen die Haare ab.

Für die Rückfahrt nach St. Petersburg mußten die Jungen nicht bezahlen, sie behaupteten, daß sie russische Flüchtlinge aus Tschetschenien seien, und reisten umsonst. Gestern schliefen sie in einem ausgebrannten Haus in der 8. Sowjetskaja. Doch nun sitzen sie hungrig und mit 39 Grad Fieber im „Lazarett“, einer Anlaufstelle für Straßenkinder. Alissa, eine pensionierte Kinderärztin, hat Tee gekocht und Wurstbrote geschmiert. Mit der Stimme einer Märchenerzählerin sagt sie: „Immer wollt ihr Jungs in den Krieg, dabei seid ihr noch viel zu jung zum Töten.“

Das „Lazarett“ wurde im vergangenen Dezember von der 28jährigen Berliner Studentin Margarete von der Borch initiiert. Sie organisiert mit dem Berliner Verein „Perspektiven“ schon seit drei Jahren Hilfe für Petersburger Straßenkinder. Die Arbeit wird jetzt für ein Jahr von der Caritas in Österreich finanziert. Der Name der Einrichtung ist irreführend, aber einer der wichtigsten Mitarbeiter, der Sanitäter Aljoscha, hatte darauf bestanden. Es war schon immer sein Traum gewesen – auch als er selbst noch auf Bahnhöfen und in leerstehenden Häusern in Petersburg schlafen mußte –, in seinem Beruf als Sanitäter diesen Kindern helfen zu können.

Tatsächlich besteht aber die medizinische Notversorgung fast nur aus Pflasterkleben, Jodpinseln, Temperaturmessen und dem Verteilen von Vitamintabletten; aber die Kinder freuen sich wahnsinnig, wenn „Onkel Aljoscha“ oder „Tante Alissa“ sie behutsam umsorgt, untersucht und pflegt.

Obwohl seit 1991 neun Einrichtungen für Straßenkinder eröffnet wurden, fehlen bis jetzt verläßliche Angaben darüber, wie viele Straßenkinder es tatsächlich gibt. Schätzungen, in denen von 50.000 bis 80.000 Straßenkindern in Petersburg die Rede ist, sollen die Spendenbereitschaft im Westen anheizen, haben aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun. So kennt die Inspektorin für Jugendschutz, Frau Gusewa, in deren Bezirk 250.000 Menschen wohnen, nur 20 Kinder, die ständig auf der Straße leben. Und selbst diese Kinder sind nicht obdachlos, es sind „Kinder, die einmal in der Woche zu Hause vorbeischauen, ob ihre Eltern noch leben“.

Der Direktor der „Auffang- und Verteileranstalt für Minderjährige“, Miliz-Major Schibajew, hält selbst die Zahl von 1.000 Kindern, die auf der Straße leben, für stark übertrieben. Er sei viele Tage und Nächte herumgefahren und habe das überprüft. „Die Kinder, die sich bei den Kiosken herumtreiben, die haben ein Zuhause, die Eltern können ihnen nur keine ,Snickers‘ kaufen“, deshalb sammelten sie auf den Bahnhöfen und bei den Kiosken leere Flaschen und schleppten Kisten. Früher habe es für diese Kinder Kultur- und Jugendclubs gegeben, die inzwischen geschlossen sind, also müßten die Kinder sich jetzt eben auf Bahnhöfen, an Metrostationen, in Kellern und auf Böden herumtreiben.

Loscha, Ilja, Sergej, Grischa und Max stehen vor der Tür des „Lazaretts“. Die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen sind heiser. Sie schwanken beim Gehen, und ihre Augen sind glasig. Sie haben den Kleber „Moment“ geschnüffelt. Die fünf gehören zu den Kindern, die ein Zuhause haben, aber auf der Straße arbeiten. Die letzte Nacht schliefen sie alle in einem Treppenhaus, ihre Väter waren betrunken und wollten sie verprügeln. Eine Nacht in einem Treppenhaus zu schlafen, das ist überhaupt kein Problem, erzählen sie. Es gibt dort Heizungen, die Bewohner fahren mit dem Fahrstuhl, und falls die Miliz sie doch entdeckt, dann können sie aus dem Fenster springen und abhauen.

Aljoscha hatte die Jungen erst vor zwei Tagen, bei einem der täglichen Rundgänge, an der Metrostation Pionierskaja angesprochen. Durch solche „Kontaktaufnahmen“ wurde das „Lazarett“ innerhalb von zwei Monaten zum Anlaufpunkt für 80 Kinder. Bis zu 20 Kinder kommen täglich. Fast zuviel für die Einzimmerwohnung.

Die Kinder kommen aber nicht nur wegen des Essens oder neuer Kleidung, die Aljoscha ab und zu verteilt. Das Schönste im „Lazarett“ ist das Spielzeug. Kaum haben sie ihren Hunger und Durst gestillt, beginnen sie zu spielen. Diese Kinder, die schon soviel Gewalt und Elend gesehen haben, können hier stundenweise ein Stück Kindheit nachleben, wenn sie aus Legosteinen Raumschiffe bauen oder ein 100-Teile-Puzzle auf dem Fußboden zusammenlegen. Die sechsjährige Nastja läßt sich in ihrer Versunkenheit weder durch Antons Kriegsgeschichten, Alissas Kommentare noch durch Aljoschas Telefongespräche stören. Mit Ölkreide malt sie das Gesicht einer Frau mit langen Wimpern und wunderschönen Augen.

Aljoscha bereitet sich auf den täglichen Rundgang mit Margarete von der Borch zu Bahnhöfen und Metrostationen vor. Er packt Butterstullen und Vitamintabletten in seine Sanitätertasche. Die ersten Kinder treffen sie an der Ecke Uliza Marata und Newski Prospekt. Zwei kleine Jungen in ärmlicher Kleidung, Wowa und Pascha, springen zwischen den Wagen hindurch, um die Autofahrer anzubetteln. Blitzartig verstecken sie sich hinter einem geparkten Wagen vor einem Jeep der Miliz, dann tauchen sie wieder auf. „Ich schlafe in der Kanalisation, ich steige durch einen Spalt ein“, erklärt der kleinere der beiden Jungen, der achtjährige Pascha, großspurig. Tatsächlich lebt er in einer Wohnung am Stadtrand bei seiner Mutter. Auch seine acht Geschwister arbeiten an dieser Ampel, da ihre Mutter nicht genug Geld hat, um sie alle zu ernähren. Die Kinder betteln, verkaufen Zeitungen, und zweimal hatten sie auch einen bezahlten Auftritt als „Straßenkinder“ – dazu werden sie dann extra in schmutzige Kleider gesteckt – vor russischen oder deutschen Fernsehkameras.

Zum Aufwärmen liefen die Jungen früher oft zur öffentlichen Toilette im Keller der Uliza Marata. In einem abgeteilten Raum der Damentoilette gab es im Notfall sogar Schlafplätze. Das ist jetzt vorbei. Nachdem das Fernsehen darüber berichtet hatte, kontrolliert die Miliz jetzt täglich, ob sich Kinder in der Toilette aufhalten.

Die Toilette ist auch eine der Stationen von Aljoscha und Margarete, danach fahren sie weiter ins Kinderkrankenhaus Nr.15. Dort können rund 85 Jungen und Mädchen bis zum Alter von neun Jahren untergebracht werden. Die Mitarbeiter des „Lazaretts“ besuchen das Krankenhaus regelmäßig, weil es zu einem regelrechten Verschiebebahnhof für Straßenkinder geworden ist.

Der Gesundheitszustand der eingelieferten Kinder ist schlecht. Sie leiden vor allem an Magen- und Darmkrankheiten, an Vitaminmangel und Haltungsschäden, aber auch an Tuberkulose – dreimal so viele Fälle wie vor 1991 –, und Hepatitis-A-Erkrankungen sind keine Seltenheit mehr.

Im Glaskasten Nr.6 hockt ein Junge mit gesenktem Kopf neben der Heizung, die Arme hat er um das Heizungsrohr geschlungen. Er hat eine Hepatitis und wird sechs Wochen allein bleiben. Im Glaskasten Nr.5 sind sechs Kinder zwischen vier und acht Jahren untergebracht. Als Aljoscha, Margarete und der Chefarzt – Dr. Anatoli Vasiljewitsch – den Raum betreten, rufen sie: „Die Kommission ist da.“ Fremde Erwachsene haben diese Kinder immer als „Kommission“ erlebt, die über ihre Einweisung in Heime entscheidet.

Haben die Untersuchungen der Kinder ergeben, daß sie gesund sind, dann kommen sie in den dritten Stock. Hier sind die Räume renoviert, und es gibt Spielzeug. Das „Lazarett“ hat dem Krankenhaus einen Spieltherapeuten vermittelt. Das ist eine kleine Revolution. Die Krankenschwestern haben fast nie Zeit, mit den Kindern zu spielen und zu reden. Sie kennen die alptraumartigen Erlebnisse der Kinder nicht. Der Chefarzt, der für die bessere Versorgung seiner kleinen Patienten kämpft, erzählt, daß hier von den Ärzten und Schwestern erwartet wird, daß sie Bauch- oder Kopfschmerzen nur medizinisch behandeln. „Oft ist ein Gespräch oder ein Spiel für die Kinder aber viel wichtiger als Medikamente“, mußte er seinen Vorgesetzten erklären, als der Spieltherapeut seine Arbeit beginnen sollte.

Auf der letzten Station ihres heutigen Rundgangs kommen Margarete und Aljoscha um 22 Uhr bei der Metrostation Pionierskaja an. Hinter den Kiosken, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, brennen Pappkartons und Gemüsekisten, acht Kinder stehen um das Feuer herum. Ein grauer Jeep stoppt auf dem Bürgersteig zwischen den Kiosken, zwei Milizionäre springen mit kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen aus dem Wagen. Sie laufen zum Feuer, aber die Kinder haben sich schon versteckt. Diesmal gehen sie leer aus.

Nachdem die Milizionäre abgezogen sind, tauchen die Mädchen Sweta, Lera und Aljona wieder auf. Seit vier Wochen sind sie auf der Straße, nach Hause gehen sie nur, um sich frische Wäsche zu besorgen. Sie warten hier auf die letzte Straßenbahn, mit der sie ins Depot am Graschdanski Prospekt fahren. Dort steigen sie um und schlafen in einem Wartungswagen, der nachts die Straßenbahnschienen kontrolliert.

Zu den regelmäßigen Besuchern im „Lazarett“ gehört Kostja vom Moskauer Bahnhof. Er ist seit acht Monaten nicht mehr zur Schule gegangen und probiert nun einen Schulranzen, den ihm Aljoscha geschenkt hat. Er ist stolz wie ein Erstkläßler vor der Einschulung. Während er sich mit dem Ranzen im Fenster spiegelt, hält er in der linken Hand eine Armbanduhr, die er gestern einem betrunkenen Mann geklaut hat, in der rechten Hand qualmt eine Zigarette der Marke „Black Death“.

Das Telefon klingelt. Anton, der 14jährige Tschetschenien-Fahrer, meldet sich aus dem Krankenhaus „Botkina“. Er sei hungrig, weil es dort nicht genug zu essen gebe. Margarete kauft Äpfel, Brot, Salz, Brühwürfel, Zucker, Tee, Klopapier und Zigaretten. Anton wartet an der Tür der Aufnahmestation und führt uns – vorbei an einer Gruppe alter Obdachloser, die im Flur des Krankenhauses Haschisch rauchen – in das Vierbettzimmer, das er mit drei Männern teilt. Wenn Anton entlassen wird, dann will er wieder in den Kaukasus – die Berge sind dort so schön. Wie er das Geld für die Reise zusammenbekommen soll, weiß er noch nicht. Als er noch klein war, habe er beim Betteln gut verdient, erzählt der 1,80 Meter große Anton stirnrunzelnd. „Jetzt gibt mir keiner mehr was. Es ist besser, klein zu bleiben.“