Ein Hauch von Hiddensee

Sie stolpern von der Fähre, keuchen zum Leuchtturm, hinterlassen zertrampelte Wiesen – und zuwenig Geld. Eine Insel kämpft mit ihren Tagestouristen  ■ Aus Kloster Bascha Mika

Sie kommen.

Bums. Die Fähre donnert gegen den Pier. Rums. Der Laufsteg knallt aufs Pflaster. Und sie schieben sich aus dem Bauch des Schiffes, stolpern von Bord. Sie entern das Land. Kurze Hosen und Jogging-Schuhwerk, Ferngläser, Fototaschen. Vergewissernd flinke Blicke nach links und nach rechts: Hiddensee, aha. Es ist 9.45 Uhr, denn mal los. Um 14.30 Uhr geht's zurück. Inseleroberung in vierdreiviertel Stunden.

Wo steckt der Reiseleiter?

Dietrich Hüls steht da wie ein Fels in der Brandung, nur trägt er Shorts und graue Socken. Er verkörpert das Unternehmen „Rügen-Touring“: Firmenchef, Busfahrer und Reiseleiter in Personalunion. Kaum ist seine Gruppe angespült, hebt er drohend den Finger: „Daß Sie mir nachher ja nicht die Fähre verpassen! Sie müssen sonst hier übernachten.“ Guter Witz. Alle lachen. Eine Grauhaarige brummt: „Man könnt' ja mal wieder was essen.“

Diese munteren Menschen gehören zum Dunstkreis der Bundeswehr, ihre Ferien auf Rügen haben sie über das Bundeswehr-Sozialwerk organisiert. Hüls paßt zu ihnen. Vor der Wende war er Philosophiedozent bei der Nationalen Volksarmee. Auf langen, dünnen Beinen stakst er los. Vom Hafen nimmt er Kurs auf die sandigen Wege von Kloster, dem hübschesten Ort auf Hiddensee. Die Gruppe folgt im Kielwasser, 20 Leute von durchschnittlich 50 Jahren.

Die anderen Reisegruppen, die das Ostsee-Eiland im Schnellverfahren erobern, sind meist doppelt so groß und anderthalbmal so alt. „Wieso soll es Probleme geben mit den Tagestouristen?“ knurrt die Kartenverkäuferin der Reederei Hiddensee angriffslustig. „Wir sind doch alle auf sie angewiesen.“ Vor allem die Reederei. Sie lebt von den Fast-food-Touris. Rund 300.000 im Jahr schippert sie, jeden Tag für ein paar Stunden, von Schaprode oder Stralsund hier herüber. Die 40.000 Langzeiturlauber hingegen machen den Kohl nicht fett.

Führer Hüls pest einen staubigen Weg entlang, geteerte Straßen gibt es in Kloster nicht. Er hält vor einem schindelgedeckten Haus. „Hier ist kein Museum“, droht ein Schild am Gartenzaun. „Viele, viele Ausflügler kommen nach Hiddensee“, belehrt der Reiseleiter seine Gruppe – genauer genommen sind es in der Saison bis zu 7.000 am Tag. „Alle Insulaner beklagen sich darüber, es ist eine richtige Haßliebe.“ Alle lachen, weiter geht's. Von einer Staubwolke verfolgt die Sandwege hoch, die murkelige Dorfstraße entlang, vorbei am Gourmet-Tip „Heute Schmoraal“ bis zum Gerhart- Hauptmann-Haus.

1885 kam der Dichter zum ersten Mal nach Hiddensee, er wurde der berühmteste Dauergast. Heute gehören sein Sommerhaus und sein Grab zu den Attraktionen der Insel und machen den 350-Seelen- Ort Kloster zum Mekka der Tagestouristen. „Wir könnten den Hauptmann ja ausbuddeln“, meint Michael Kallius, Landarzt und stellvertretender Bürgermeister von Hiddensee, gehässig „und ihn dann im Zwei-Jahres-Rhythmus auf die beiden anderen Dörfer der Insel schaffen. Das würde den Touristenstrom entschieden entzerren.“

Hüls sammelt von jedem eine Mark für den Eintritt in die Gedenkstätte ein. Rein geht's ins Hauptmann-Haus. Es ist 10.20 Uhr. Raus geht's. Es ist 11.10 Uhr. Fototermin. Die Grauhaarige findet: „Man könnt' ja mal wieder was essen.“ Weiter geht's. Nach der Kultur lockt die Natur. Auf zum Leuchtturm an der nördlichen Inselspitze. „Ich mag keine Touristentrampelpfade“, verkündet Hüls, „wir gehen auf Schleichwegen.“

Steil steigt der Pfad, links und rechts schützen dicke Balken die empfindlichen Magergraswiesen. Doch der Trupp schafft es trotzdem, über die Grasnarbe zu trampeln. Eine Handvoll Schuhsohlen kann so ein Halm ab, aber 100.000?

Ganz Hiddensee ist ein Naturpark, Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Früher gab es hier keine Zäune, aber auch nur ein Fünfzehntel der Touristen. Vor allem die Reisegruppen scheren sich nicht um markierte Wege und zerpflügen die Landschaft, als ob sie die Dünen gekauft hätten. „Die Insel ist unsere Wirtschaftskraft. Und sie wird zerlatscht und beschmutzt und vergewaltigt von vielen, vielen Füßen“, schimpft Dr. Kallius.

Die erste Hügelkuppe ist erreicht. Das Meer so blau, der Ginster so grün, eine Frauenstimme schwärmt: „Guck mal, das Zittergras.“ Dietrich Hüls deutet vage zwischen die Buckel: „Es bieten sich hier immer wieder ganz neue Durchblicke und Einblicke.“ Dann fließt dem Philosophen die Seele über: „Wir sind in unserer Heimat von soviel Poesie und Herrlichkeit umgeben, da muß man nicht nach Spanien.“

Die Erwachsenen frohlocken, der sechsjährige Sohn eines Bundeswehrvatis steht fröhlich mitten im hohen Gras und rupft. Büschelweise hängen Kräuter und Blumen in seiner Hand. Führer Hüls: „Du darfst nicht allzuviel davon abreißen. Wenn die Onkels vom Naturpark dich sehen, führen sie mit Papi ein unangenehmes Gespräch.“ Der Kleine: „Das ist nicht zuviel!“ Papi zerrt seinen Sprößling beiseite. Der Vater: „Leg das sofort hinter den Busch!“

Bei Kallius finden die Tagestouristen keine Gnade. „Sie haben keine Ahnung von Hiddensee.“ Sie suchten das Dorf Hiddensee – das es nicht gibt –, stünden vor Kirche und Gedenkstätte „und wissen noch nicht mal, daß dahinter die Ostsee ist“.

Die 1.300 Insulaner leben vom Tourismus. Aber die Tagesbesucher, sagt der Gemeindevertreter, bringen nur der Reederei, einem halben Dutzend Gaststätten und den Imbißbuden Gewinn – und auch nur denen in Kloster. Weil die Ausflügler den altmodischen Charme der Insel nicht kennen und schätzen lernten, würden sie auch die Natur nicht schonen – dafür die Dauergäste abschrecken, die für einige Wochen ruhige Ferien genießen wollten. „Straßen voll, Betten leer, das kann nicht die Perspektive sein.“

Der Sandweg steigt weiter an, da endlich scheint der rote Hut des Leuchtturms hervor. 12.00 Uhr. Angekommen. Wie bereits hundert andere. Ein tiefer Blick aufs Meer hinunter, Fototermin neben der Königskerze. „Hier ist man der Unendlichkeit ein Stück näher“, dichtet Reiseleiter Hüls, „hier kann man sitzen und schau'n und schau'n und schau'n ... Aber wir haben leider nicht soviel Zeit!“

Die Gruppe staubt einen schmalen Weg hinunter. Johannis- und Natterkraut säumen den Rand, die Gewöhnliche Ochsenzunge, die sich so weich anfühlt wie die Kuh im Maul, leuchtet blau. Die anliegenden Weiden sind mit Elektrozäunen gesichert. Fürs Vieh oder gegen die Touristen? 12.15 Uhr. Mittagessen in der Gaststätte „Zum Enddorn“ von 1888. Draußen stehen Bauernrosen, drinnen hängen hundert Ölbilder und Aquarelle. Dietrich Hüls wird mit einem Bier begrüßt, er macht diese Tour ja zweimal die Woche. Auf zu Dorsch und Scholle.

„Wir können den Tagestouristen ja nicht verbieten, auf die Insel zu kommen“, stellt Landarzt Kallius fast schon bedauernd fest, „aber dann muß man die Leute wenigstens kanalisieren.“ Das bedeutet: nicht alle in Kloster abladen, sondern auch auf die anderen Dörfer verteilen.

Jeder Ort hat seinen eigenen Hafen, doch die Reederei, eine hundertprozentige Tochter der „Weißen Flotte Stralsund“, will von diesen Plänen nichts wissen. Etwas auf die Schnelle zu gucken gibt's eben nur in Kloster und an der Steilküste beim Leuchtturm. Seit Monaten liegt die Gemeindevertretung mit der Reederei im Clinch. Um dem Ärger ein Ende zu machen und ihre eigene Politik durchzusetzen, will sich die Gemeinde an dem Fährunternehmen beteiligen. Doch noch fehlt dazu das Geld.

Die Sonne brennt, mit vollem Bauch marschieren Dietrich Hüls und seine Gruppe zurück nach Kloster. Pferdekutschen ziehen vorbei, auf den Telegrafenleitungen zwitschern 376 Schwalben. In Kloster werfen die Ausflügler einen Blick auf das Grab von Gerhart Hauptmann. Ein riesiger Findling erinnert an den berühmten Mann, zwei Meter entfernt liegt ein winziger Feldstein mit dem Namen von Hauptmanns Frau. Dann steht noch das weiß- blaue Inselkirchlein auf dem Programm. Und dann ist es auch schon 14.15 Uhr. In einer Staubwolke zurück zur Fähre. Hiddensee – das war's.

Ratsch, rutsch, rüber.