Reizüberflutung der besonderen Art

■ Funkausstellung: Am ersten Wochenende schon über hunderttausend Schaulustige

„Ganz schön anstrengend!“ klagt Ines H., die eine Glastür am Eingang der Halle 17 der Funkausstellung bewacht. Während die junge Frau, die elf Stunden an der gleichen Stelle rumstehen muß, vor Langeweile schier umkommt, leiden die anderen Besucher eher an Reizüberflutung.

Ringsum ist Multimedia in Rundfunk und Telekommunikation angesagt. Mit bombastischen Effekten soll dem Käufer das Fernsehgerät des 21. Jahrhunderts angedreht werden, überall rumst es in Super-High-Fidelity und hängen Wände voll mit Großformat- Flachbildschirmen.

„Gewöhnungsbedürftig“, urteilt ein Mittvierziger mit geröteten Augen über die elektronische 3-D-Brille eines japanischen Herstellers. Obwohl es gerade erst Mittag ist, wirkt er bereits völlig geschafft.

Gleich zu fünft ist die Familie S. aus Cottbus zur Funkausstellung angereist. Die Sippe hat sich bei der Sanyo „World of tomorrow“ eingereiht. Während der Nebenmann laut „Scheiße!“ schreit, weil ihm die Tür zum Superkino vor der Nase zugeschlagen wird und er noch eine Vorstellung abwarten muß, fällt die Familie S. durch ihre stoische Haltung auf: Man sei eben „Schlangestehen noch irgendwie gewohnt“. „Was wir sehen wollen, das sehen wir auch“, bekräftigt die 20jährige Tochter.

Dann ist es soweit: Die Tür geht wieder auf, und eine Hostess verteilt Pappbrillen. Das 3-D-Märchen, eine fünf Minuten lange japanische Adaption von Aladdins Wunderlampe, unterscheidet sich von der Originalfassung dadurch, daß der Geist eine bildschöne Fee ist. „Geil!“ entfährt es einem Halbwüchsigen mit Baseballmütze, als die Fee in durchscheinenden Gewändern eine Verbeugung macht, daß einem die Satinhöschen der Schönen dreidimensional entgegenkommen. „Als tät man mittendrin stehn“, schwärmt ein Sachse mit glänzenden Augen, als er aus der Vorstellung herauskommt.

Zehntausende flanierten durch die rund 100.000 Quadratmeter Hallen oder spazierten durch den Sommergarten, wo die multimediale Sinnesflut geradezu bizarre Ausmaße annimmt. Sechsundzwanzig Fernseh- und achtzehn Rundfunkstationen senden live vom Messegelände. Jeder Sender scheint die anderen mit noch ausgefalleneren Kinkerlitzchen übertrumpfen zu wollen. Während am Bungee-Kran ein Mann in den Abgrund hüpft, spielt eine Punk-Kapelle auf Stelzen. Gleichzeitig fährt auf der Bühne eines anderen Senders ein Schwarzbefrackter, auf dem Lenker des Fahrrads sitzend, rückwärts im Kreis und spielt dabei Violine.

Hier diskutiert eine Clique Jugendlicher über einen Prospekt gebeugt, ob man sich jenen Verstärker anschaffen sollte, dort bemerkt eine Rentnerin mit Blick auf den noch am Bungeeseil baumelnden Mann, daß sie da wohl niemals runterspringen würde. Und überall wird gegessen und getrunken. Ein Familienvater ächzt: „Umsonst ist der Tod“, bevor er zerknirscht 12 Mark für drei Käseschrippen abdrückt. Peter Lerch