Regen pladdert, Sinfonie weint

■ Wetterunbilden setzen die dramatischen Höhepunkte beim Eröffnungskonzert des Bremer Musikfestes im „Eduscho-Terminal“

Alma Mahler berichtet in ihren Erinnerungen: „... kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorausahnend verriet. Die sechste ist sein allerpersönlichstes und ein prophetisches obendrein“.

Geschrieben 1903/04, im vielleicht glücklichsten Jahr seines Lebens, antizipierte Gustav Mahler mit der Komposition der sechsten Sinfonie in a-Moll die kommenden Schicksalsschläge: den Tod seiner Tochter, den erzwungenen Rücktritt von der Leitung der Wiener Oper und die Diagnose der schweren Herzkrankheit, die er als Todesurteil empfand. Die Dimensionen des Werkes sind gewaltig: 80 Minuten dauert das Werk, allein das monströse Finale fast eine halbe Stunde, der Qual und des Schmerzes kein Ende.

Freudige Stimmung zur Eröffnung des Bremer Musikfestes. VIPs in den Scheinwerfern des Eduscho-Terminals, tausende laufen und suchen ihre Plätze, auf denen sie nichts sehen und manchmal auch nichts hören können, eine riesige Leinwand zeigt zeitgleich die Fernsehübertragung. Der Ansager ist übersteuert. Irgendwann ist es still und der Maestro Zubin Mehta betritt die Bühne, wo sein Orchester sitzt:

Das Israel Philharmonic Orchestra, mit dem der gebürtige Inder seit dreißig Jahren zusammenarbeitet, seit 1977 als Chefdirigent und seit 1981 dies auf Lebenszeit. Da plattert ein lautstarker Regen auf das Plastikdach von Eduscho, das Konzert fängt trotzdem an, denn SAT 1 überträgt.

Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie in g-Moll, KV 550, die Sinfonie, die weint wie keine andere, ist nur in Rudimenten zu erkennen, zugeregnet das ganze Werk. Gewiß macht Mehta das nicht schlecht, aber Mozart ist nicht seine Welt. Zu dramatisch wird die Konzeption, jedenfalls in dem Rest, der da noch zu hören ist. Kaum ist der letzte Ton verklungen, springt uns Mehta – wiederum viel zu laut – auf dem Bildschirm in einem Interview entgegen, und während Mehta leutselig erzählt, er kenne keinen Streß, hasten wir zum Sekt oder zum Wein oder zum Kaffee und werden ganz schnell wieder zurückgescheucht, weil's ja wegen SAT 1 pünktlichst weitergehen muß.

So gut das Programm mit Mozart und Mahler also an sich gebaut ist, geht das Ganze zusammen mit dem inhaltlichen Anspruch, den die Wiedergabe und damit Rezeption der sechsten Sinfonie von Mahler verlangt? Nein. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß noch jede gute Komposition ein höchst persönliches Werk ist, so geht die Mahler'sche Ästhetik noch einen Schritt weiter. Seine Musik ist das/sein Leben, sie ist „Selbstpreisgabe, Selbstzerfleischung“ (der österreichische Musikkritiker Heinrich Kralik). Und da stimmt einfach in diesem Ambiente nichts mehr, die akustischen Verzerrungen über die Lautsprecher tun das ihre zu dieser Verhackstückung eines Werkes, das Mahler „tragisch“ nannte, für das er das größte Orchester innerhalb seines Gesamtwerkes brauchte. Mehtas Wiedergabe mit dem fabelhaft spielenden Orchester schaffte es zeitweise, das alles zu überspielen, uns mit seiner Genauigkeit und seiner Intensität nachhaltig zu fesseln.

Mehta zählt zu jenen Dirigenten, an deren Körpersprache man die Dynamik der Musik wie an einem Seismografen ablesen kann. Die Gesten des dirigierenden Schmerzensmannes decken sich mit den Inhalten der Musik, decken sich mit den Vorgaben der Partitur, besonders in ihren unablässig wechselnden Tempovorgaben, ihrer schroffen Dynamik. Die Wiedergabe war enorm plastisch im bedrohlichen Rhythmus, im Grotesken und Bizarren, in den lyrischen Naturepisoden, sie bot ebenso das verzweifelt Zerrissene wie übergreifende Sinnzusammenhänge. Mehta verweigert den „schönen Ton“ und kommt damit den wuchernden Architekturen Mahlers wunderbar nahe, formuliert mit größter Anstrengung das Inferno des Finalsatzes.

Erwärmen konnte er die kühle Atmosphäre in der Eduschohalle dennoch nicht. Und so zerlief ihm auch einiges unter den Fingern, reihte sich scheinbar willkürlich aneinander. In Mahlers Werk gibt es drei „Hammerschläge“, die das Schicksal markieren sollen, das den Helden zerstört. Nach der Uraufführung merzte Mahler aus Aberglauben den dritten wieder aus.

Nun bekam er in dieser Aufführung Hilfe von außen. Kurz vor Schluß fing der zerstörerische Regen wieder an, hier wirkte er wie der dritte Hammerschlag. Das Israel Philharmonic Orchestra überzeugte voll. Aber das Rätsel, das diese Sinfonie nach Mahlers Meinung noch Generationen aufgeben werde: Es ist weiter ungelöst.

Ute Schalz-Laurenze