Lido-Kino
: Essen mit einem Massenmörder

■ Große Elefanten, den neuen Woody Allen und ein Kammerspiel in Venedig

Wenn man so nach Venedig einfährt, um Filme zu sehen, fühlt man sich ein wenig als Nachfahr der Kaufleute, die hier hockten und fremder Leute exotische Waren an sich vorbeitreiben ließen, von seidenen Stoffballen bis zu praktischen Nutztieren. Was vom diesjährigen Programm zu halten ist, läßt sich ungewöhnlich schwer ausmachen; nicht einmal die Veteranen wissen es einzuschätzen.

Viele unbekannte Namen stehen neben den paar vertrauten; Woody Allen stellt seinen bereits sagenumwobenenen „Mighty Aphrodite“ vor, der zum Teil auch in Italien gedreht worden ist (wie man hört, an antik-bedeutsamen Stellen, dio mio!), heute abend kommt „Stonewall“ von Nigel Finch, dann das Gemeinschaftsprodukt von Wim Wenders und Michelangelo Antonioni, das „Par-delà les nuages“ heißt und einen zittern und zagen läßt. Eine Mondlandung in Form von Ron Howards „Apollo 13“ und ein Raskolnikow-Portrait lassen dann aber gleich schon wieder hoffen. Einer alten Strategie folgend hat die Mostra auch dieses Jahr vor, ein paar Elefanten vorbeiziehen zu lassen. So läuft hier „Crimson Tide“, „Waterworld“ und eben „Apollo 13“ in der Kategorie praktische Nutztiere, und es stört niemanden, daß sie zum Teil schon seit Wochen in europäischen Kinos laufen.

Ah, aber der Eröffnungsfilm. Romuald Karmakars „Der Totmacher“, das Porträt des Massenmörders Fritz Haarmann, ist von der Form her eine Art Kannibalen-Version von „Mein Essen mit Andre“, ein Kammerspiel für meistens drei Personen, nämlich Götz George als Haarmann, der fantastische Jürgen Hentsch, ein Defa-Star turned Burgtheater, als Psychiater Professor Ernst Schultze und schließlich der Käutner-erprobte Pierre Franck als stummer Schreiber.

Der Dialog folgt exakt den Protokollen der damaligen gerichtsmedizinischen Aufzeichnungen, und manchmal hat man den Eindruck, einer Art „Foucault-für-dritte-Programme“ beizuwohnen, wäre nicht der wirklich phantastische Text. „Wo liegt Berlin?“ – „Da war ich mal.“ „Was haben Sie da gesehen?“ „Weiß nicht. Würstchen.“ Bekanntermaßen hat Haarmann in seinem Viertel in Hannover, das man wegen seiner malerischen Lage zwischen zwei Armen der Leine „Klein-Venedig“ nannte, mindestens 27 junge Männer hingeschlachtet. Das Gespräch, denn es ist kein reines Verhör, kreist in großen Bögen die Morde ein: Geographie, wo endet der Rhein, wieviel sind tausend Mark, wer ist der höchste unserer Republik; dann: Wie nennt man das, wenn man Gestohlenes weiterverkauft, und dann auch: Haben Sie mit ihm poussiert, hat er sie gelutscht (der Professor sagt geluutscht), warum haben Sie das getan, George: „Es waren doch nur Puppenjungs!“; was haben sie mit den Fingern gemacht? George zeigt alles, alles, und manchmal ein bißchen zu viel, er läßt den Alten raus, endlich, und den Schimanski weit hinter sich, er läßt die Frage offen, was Haarmann wissen und was er nicht wissen konnte, wie schuldhaft das alles war, kurz: Er hat Karmakar, der sich bislang für Kampfhunde, Söldner, Soldaten interessierte, einen Film über Hitler geschenkt. Mariam Niroumand