Mitten in der Pampa

Urlaub in einem umgemodelten Kuhstall im westnorwegischen Billingen. Ganz angepaßt, denn zu jeder zweiten norwegischen Familie gehört eine Hütte  ■ Von Tomas Niederberghaus

Frau Skrinde steht schon am Wegrand und fuchtelt wild mit den Händen. Die alte Norwegerin trägt einen violetten Jogginganzug aus den Siebzigern, dazu grüne Gummistiefel und eine blaue Kappe. Natürlich hatte sie sich schon gedacht, daß wir die Hütte lange suchen. Billingen nämlich ist ein nicht existierendes Kaff, das es nur auf der Landkarte gibt. Fünf Holzhütten zählt der Weiler. Sie sind weit voneinander entfernt. Ein Ortsschild ist nicht zu finden. Und auf dem Voucher stand lediglich der Vermerk: „Zirka 50 Kilometer hinter Lom, Hütte rechts.“

Es ist kalt. Verdammt kalt. Tagsüber schien noch die Sonne. Wir hatten die Stadt Vinstra durchquert, in der eine Hundertschaft texanisch gekleideter Trunkenbolde durch die Straßen wankte. Wir waren über grünbepelzte Hochplateaus gefahren, auf die Schäfchenwolken im Sonnenlicht Schatten warfen. Am Horizont türmten sich die weißen Kuppen der Fjordlandschaft. Edelste Hochglanz-Eindrücke, von denen man glaubt, Fotografen hätten Tage und Wochen zugebracht, bei entsprechendem Licht eine unverwechselbare Kulisse zu konservieren. Diese Naturspektakel muß man nicht suchen. Nicht in Norwegen. Nur Billingen, das sucht man lange. Und nun ist es saukalt.

Im Herdfeuer knistert das Holz. Frau Skrinde hat alles arrangiert, um uns der Einsamkeit zu überlassen: hat den Kühlschrank angeworfen, Holzscheite gestapelt, uns den Heißwasserboiler erklärt. Nun möchte sie noch etwas wissen: „Haben Sie denn keine Frauen dabei?“ Sie sagt das mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. „Manchmal“, sagt sie, „verlassen die Menschen die Hütte wie einen Kuhstall.“ Schon klar, was sie meint: Wer den Feudel nicht ausgiebig schwingt, begeht ein veritables Verbrechen. Man muß hier hinzufügen, daß Frau Skrindes Hütte im Jahre 1726 als kleiner Kuhstall gebaut wurde. Heute sieht er ganz anders aus. Die Küche ist spartanisch, aber funktional, an den Wänden hängen selbstgewebte Teppiche in warmen Erdtönen, die Betten sind kurz. Viel zu kurz. Ruck, zuck landen die durchgelegenen Schaumstoffmatratzen auf dem Boden. Zum Klo läuft man zwei Minuten: Es ist draußen, in einem Bretterverschlag, mit Herz in der Tür.

Die fast viereinhalb Millionen Norweger, heißt es, teilen sich 400.000 Hütten, jede zweite Familie besitzt eine eigene. Diese Hütten liegen in verwilderten Gärten, zwischen feuchtbewachsenen Steinen, moorigen Mulden, Granitblöcken. Oder an Seen und rauschenden Gebirgsbächen. Schon morgens in der Früh hören wir das tosende Wasser, das direkt neben der Hütte Hunderte von Metern in die Tiefe schießt. Davor schleicht eine Horde wilder Kühe umher. Menschen gibt es kaum. Hier kann man tot über dem Gartenzaun hängen, und niemand merkt's.

Der Himmel ist stahlblau. Die Sonne sticht. An diesem Tag fahren wir nach Geiranger, einem winzigen Ort am Fuße des Sunnylvsfjorden. Kaum liegen die ersten Serpentinen hinter uns, überrascht die Landschaft mit einem Bild sondergleichen: Auf den flachen, schneebedeckten Bergwänden sind schmale, dunkle Streifen getaut. Die Wände gleichen Zebrafellen, die sich in der monochromen Fläche eines Sees widerspiegeln. Hier hat die Eiszeit Protokoll geführt.

Geiranger zählt vielleicht zweihundert Seelen. An dem kleinen Anleger starten die Fähren, tuckern durch den Fjord. In Geiranger ereilt den Besucher zunächst das Gefühl einer klassischen Autoreise, das Gefühl, Mutter Natur drückt bei jedem heraneilenden Vehikel einfach ein Auge zu. „In Geiranger“, das hatte auch Frau Skrinde gesagt, „da ist es wunderschön und fast noch wie früher.“ Weit gefehlt! Ein plötzlich heranschippernder Kreuzfahrtdampfer stößt dicke Wolken aus, die den Himmel über Geiranger tiefschwarz färben, spuckt dann mehrere Dutzend amerikanische Touristen aus, die die Dorfidylle für eine Stunde lauthals trüben. Zu guter Letzt erblicken wir dann noch eine Warnung vom World Wide Fund for Nature auf der Brottüte des Bäckers: Jeden Tag werden 1,4 Quadratkilometer unberührten Naturraums in Norwegen durch Straßen- und Raubbau vernichtet. Von 1982 bis 1992 waren es insgesamt 5.000 Quadratkilometer. Der Tourismus, so die Naturschützer, ist mittelbar verantwortlich.

Solche Hinweise sind jedoch Ausnahme. Vielmehr stehen auf norwegischen Lebensmittelverpackungen reihenweise Konservierungsstoffe. Die freundliche Dame im Supermarkt gerät denn auch schnell ins Stottern, wenn jemand nach Rentiersalami ohne E 110, 114 oder 325 fragt. Also ab in den Korb, das veredelte Zeug. Und zum Vorrat an Brot, Butter und Gemüse noch das aktuelle Dagbladet.

Abends. Kerzen erhellen die Hütte. Es riecht nach loderndem Holz. Zeit, zeitloses Zeug zu lesen: Bücher und Beiträge, die man für besondere Augenblicke stets in die Ecke gelegt hatte. Aber auch das Dagbladet. Bei der Lektüre wird dann klar, was die texanisch anmutenden Trunkenbolde nach Vinstra trieb: eine Kulturkollision mit üblem Nachgeschmack. Einer der Country-Freaks biß einem Spätpubertierenden das Ohr ab „und schluckte es runter“. Das Opfer hatte die Western-Schnulzen während des Festivals nämlich mit HipHop zu übertönen versucht. Der junge Mann, schrieb das Dagbladet, war nach einem einstündigen Klinikaufenthalt jedoch schon wieder dabei: „mit Schmerzen, solider Bandage, aber ohne Ohr“.

An Zivilisation erinnern nur noch die norwegischen Almkühe Billingens. Neugierig schaut uns das liebe Vieh hinterher, als wir die Bergwaldstufe verlassen, ins karge Gebirgsgelände hochstapfen. Der Weg ist holprig. An dessen Ende jedoch, so zeigt es Frau Skrindes vergilbte Wanderkarte, steht eine lauschig gelegene Almhütte. Zuvor erstreckt sich ein kilometerlanges Hochtal, durch das ein kristallklarer Gebirgsbach reißt. Stunden später laufen wir wie in Trance. Die Füße werden schwer. Keine Spur von einer Hütte, dafür die späte Erkenntnis, daß die Karte keine Entfernungen ausweist. Im Zwielicht der Nacht kehren wir zurück. Und mit uns der Bergzauber: Bewegt sich da nicht etwas auf den weißen Kuppen? Trolle etwa? Es wundert nicht, daß diese häßlichen Fabelwesen mit den langen Nasen, den puscheligen Schwänzen und vierfingerigen Händen in der Abgeschiedenheit Norwegens geboren wurden. Hier verfällt man der Landschaft, der Zeit, der Einsamkeit. Hier kann man abtauchen. Einfach weg.

Plötzlich erwacht man dann doch wie aus einem tiefen Traum. Frau Skrinde steht vor der Tür. Nun aber schnell den Feudel schwingen, die Teppiche ausklopfen, die Naßzelle schrubben.

Katalog und weitere Informationen: Norsk Hytteferie, Katerine Anderson, Boks 3404 Bjolsen, 0406 Oslo, Tel.: 0047/22356710