Viel Licht, viel Zeit, viel Sex?

Lichtkuren am Polarkreis sollen Besucher in den hohen Norden locken und ihre sexuelle Leistungskraft stärken. Ihr größtes Kapital: ewig Sonne. Ein Testbericht aus Lappland  ■ von Tomas Niederberghaus

Ganz am Ende der Straße lag die Sonne als orangerot glühende Kugel auf dem grauen Asphalt. Rechts und links standen Blumen in sattem Wiesengrün: indigoblau, hennarot, zitronengelb. Glückliche Einsamkeit. Hier und da tauchten ein paar bunt gestrichene Holzhäuser auf. Kinder spielten Ball, tollten auf dem Rasen. Es war Mitternacht. Sommer im schwedischen Lappland.

Herr S. bat um seine Sonnenbrille. Noch fünfzig Kilometer trennten sie vom Kurhotel Källan Spa, als plötzlich eine Elchkuh über die Straße spazierte. Neugierig blieb sie stehen, im Schatten zwei Jungtiere. Herr S. stieg in die Bremsen. „Schau an“, sagte er, „putzmunter die Elche – und das zu dieser Uhrzeit. Was glaubst du, was passiert, wenn das Licht bei uns Wirkung zeigt?“ Schwer zu sagen. „Eine Lichtkur“, zitierte Herr H. aus dem verheißungsvollen Folder eines Skandinavien-Reiseveranstalters, „hat positive Auswirkungen auf den Organismus. Das sexuelle Verlangen sowie die Empfänglichkeit für sexuelle Reize werden gesteigert.“ Ein passendes Foto illustrierte die Energien: In der Horizontalen fummelte ein knackiger Kerl an einer locker bekleideten Brünetten rum.

„Geschafft“, murmelte Herr S. Vor ihnen, auf der höchsten Stelle weit und breit, lag das Källan Spa: Ein mausgrauer, moderner Holzbau, eines von insgesamt fünf Häusern, die im Norden Skandinaviens, mit viel Licht, abgeschlaffte Körper wieder aufzupeppen versuchen. „Ein bißchen wie im Zauberberg“, frohlockte Herr H., während Herr S. in die Ferne blickte. Die Landschaft rundum glich einem Leopardenfell: helle und dunkle Waldflächen, dazwischen silber schimmernde Seen und Tümpel. Sonst nichts. Nur der würzige Duft bemooster Steine und Kiefernnadeln mischte sich in die klare Luft.

Hakan Palsson, der junge Hoteldirektor, stand im Trachtenpulli in der Empfangshalle. Rot leuchteten seine Apfelbacken. Er hatte bis spät in die Nacht auf die Neuankömmlinge gewartet. „Ihr seid die einzigen Gäste hier“, erklärte er, „zur Zeit ist keine Saison.“ Damit wolle man in Zukunft Gäste in den noch besucherschwachen Monaten Juni und Juli locken. Schließlich schwärmte Hakan noch von der Vollwertküche. Dann drückte er Herrn S. den Schlüssel (Nr. 14) in die Hand. „Schlaft gut“, sagte er.

Langsam schwänzelte Herr S. am Bett vorbei, ließ die Hüllen fallen, griff sich kurz an sein Geschlecht. „Oh, oh“, dachte Herr H., „wie soll das nur werden, wenn die Lichtkur erst einmal zu Ende ist.“ Doch dann fiel Herr S. wie ein Stein in die Federn. „Ich bin grottenfertig“, tönte es aus dem wulstigen Gebirge der Kissen. Sie hatten die Fenster geöffnet. Draußen war es fast taghell. Unheimlich mutete die Stille der Nacht an; nur einmal vernahm Herr H. den Schrei eines Vogels.

„Bra Paket“, stammelte Herr H., „was ist denn das?“ Hakan lachte. „Es gehört zu einer ordentlichen Lichtkur“, sagte er, „die junge Ale empfängt euch um 9.30 Uhr am Whirlpool.“ Herr H. witterte ein Animationsprogramm besonderer Art; vor seinem geistigen Auge passierte Befremdliches. Prompt klemmte ihn eine Angsterektion. Doch es kam anders als erwartet, selbstverständlich. Ale stand in gebatikter Hose vor einem Teewagen, auf dem zahlreiche Fläschchen standen. Sie strich sich durchs schulterlange Haar. Kerzen hatte sie gezündet, obwohl die Lichtstrahlen der Sonne durch die große Glasfront einfielen. Im Hintergrund war meditative Musik zu hören, Michael Jones' „After the rain“.

„So“, sagte Ale zu Herrn S., „Sie beginnen mit einem heißen Kräuterbad.“ Herr S. stieg in die Wanne. Während sein Körper in wohlriechendem Wasserdampf verschwand, lehnte sich Herr H. in einen Liegestuhl. Ale reinigte sein Gesicht mit Rosenwasser, griff dann zum Avocadoöl. Langsam fuhren ihre Fingerkuppen über Stirn, Augenhöhlen, Nase, Wange und Kinn. Minuten später empfand Herr H. eine derartige Entspannung, daß er befürchtete, sein Gesicht schmelze wie Vanilleeis unter heißen Kirschen dahin.

„Haben Sie viel Sex?“ fragte Herr H. – Ale kam die Frage sehr unvermittelt daher. Schüchtern, aber auch schelmisch lächelte sie. „Wie kommen Sie denn darauf“, wollte sie wissen. Herr H. räumte mögliche Mißverständnisse gleich aus dem Weg, verklickerte ihr den Inhalt des „Lichtkurfolders“. „Na ja“, sagte Ale, „die Menschen hier leben im Sommer. In der dunklen Jahreszeit machen sie eine Art Winterschlaf.“ Dabei schmierte sie Herrn H. eine Honig-Mandel- Pampe ins Gesicht. Sie selbst schlafe maximal fünf Stunden in der Nacht, sagte sie. Und wenn die Sonne im Juni und Juli über 800 Stunden nicht untergehe, fühle sie sich wie ein kaum zu bremsendes Energiebündel.

Herr H. war für einige Minuten eingeschlummert. Draußen sah er adrette Schweden, die unbekleidet phallustierten. War es Freilufterotik in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt oder sehnsüchtige Vorstellungskraft? Es war ein Traum, den er als erste Frucht einer erfolgreichen Lichtkur wertete! Oder ließen sich Wollust und Licht womöglich gar nicht in einen linearen Zusammenhang bringen? Zwar wurde das Licht schon in der Antike als Wunderwaffe für die Psyche gepriesen, aber eine Einbauküche allein macht schließlich auch noch keine gute Köchin. Als er aufwachte, war der Naturkleister in seinem Gesicht hart geworden. Vorsichtig lugte er zur Fensterfront. Davor lag Herr S., eingerollt in weiße Tücher, aufgebahrt wie eine Mumie. Das Sonnenlicht brannte ihm auf der Nase.

Eines Abends, es muß am vierten oder fünften Tag gewesen sein, spürte Herr H. eine neue Triebkraft im tiefen Inneren seines Körpers. Die hektische Betriebsamkeit der Großstadt war von ihm gefallen, jegliche Dauermüdigkeit war futsch. Er fühlte sich wie Amor. „Laß uns in den Wald gehen“, forderte er Herrn S. auf. „Um diese Zeit?“ wunderte sich der, „es ist doch schon nach Mitternacht.“ Herr S. bemühte sich gerade, sein frischgewaschenes Hemd mit einem Reisebügeleisen zu trocknen. Es zischte durchs Zimmer, Dampfwolken stiegen auf.

Im Wald ging es tierisch ab. Vögel zwitscherten. Elche kreuzten galoppierend den Weg. Ein Fuchs schlich durchs Dickicht; aus seinem Maul baumelte ein erlegter Hase. Außer Flora und Fauna war in diesem Schwedisch-Sibirien nichts zu sehen. Nur der Geruch des frischgeschlagenen Holzes ließ auf Menschen schließen. Bis Norsjö, dem nächstgrößeren Ort, waren es Pi mal Daumen etwa 20 Kilometer. „Früher“, sagte Herr S., „habe ich mir immer vorgestellt, es kommt ein kerniger Jäger des Wegs.“ Herr H. wertete diesen Satz als sicheren Vorboten einer erfolgreichen Lichtkur. Er beobachtete, wie Herr S. mit den Händen tief in die Hosentaschen abtauchte. Und tatsächlich: Kaum waren sie zurückgekehrt, riß Herr S. Herrn H. die Klamotten vom Leib (sich selbst auch) und stand wie ein rolliges Rentier mit schmachtend verklärtem Blick am Bettende. Alle Zeichen standen auf ein Rendezvous der Sinne, wäre in diesem entscheidenden Augenblick nicht etwas geradezu Furchtbares passiert.

Wie auf Kommando begannen Herrn H.s markstückgroße Mückenstiche zu jucken. Fünfzehn hatte er gezählt. Es war die erste Attacke seit Beginn der Lichtkur. „Insbesondere Mücken und Bremsen“, las er Herrn S. aus dem Beipackzettel seines schmerzlindernden Gels vor, „stellen für den Menschen nicht nur eine unangenehme Belästigung dar, sondern können als Krankheitsüberträger ... zu einer ernsthaften Gefahr werden. Angelockt werden diese Insekten durch Körperwärme und spezielle Duftstoffe der Haut.“ Dem zweiten Satz folgte die erste Hilfe. Abgetörnt schlief Herr S. ein.

Das Frühstücksbüffet war wie immer üppig, und vor allem hoch biologisch abbaubar: Zahlreiche Körnersorten füllten die Tonschälchen, daneben standen selbstgebackenes Brot mit Karottenstreifen sowie Melonen, frisches Quellwasser und Backpflaumen. Statt praller Sonne befleckten dunkle Wolken den Himmel. Herr S. wirkte an diesem Tag leidenschaftslos. „Vielleicht“, schlug er vor, „sollten wir eine mehrstündige Lichtkurpause einlegen und das Källan Spa verlassen.“ Im gleichen Augenblick schlenderte Hakan zum Frühstückstisch, sichtlich gut gelaunt. „Morgen werde ich für einige Tage nach Helsinki fahren“, erklärte er, „vielleicht sollten wir heute abend noch saunieren.“ Sie verabredeten sich für 21 Uhr. Dann schlug er den Herren einen Ausflug zu Charlie und der längsten Seilbahn der Welt vor.

Charlie Johansson hatte die größten braunen Augen, die Herr H. jemals gesehen hatte. In Spitzenzeiten saß er mit seinem schwarzen Schlapphut vor einer Horde Reisender und wies sie in die Kunst des Goldwaschens ein. Herr H. mochte die Leidenschaft, mit der Charlie von seiner Heimat und seinem Nachwuchs sprach. Schon die zahlreichen Kindersitze in Charlies Kombiwagen ließen auf ein lichtlustvolles Liebesleben des lappischen Ehepaares Johanssons schließen. Beeindruckend war auch die Leidenschaft, mit der Charlie seine Träume umzusetzen schien. Beispielsweise die Seilbahn. 1943 war sie gebaut worden und diente einst zum ökologischen Transport von Eisenerz zur Ostküste Schwedens. Charlie hatte bei der Regierung eine Genehmigung durchgeboxt, einen Teil der 100 Kilometer langen Strecke nach Stillegung für touristische Zwecke umzumodeln.

Ein Potsdamer Bus hatte eine Ladung sehenshungriger Reisender ausgespuckt. „Lächeln“, zwitscherte eine Mittfuffzigerin, „jetzt kommt das Vögelchen.“ Paarweise polterten die Weitgereisten in die Seilbahngondeln. Herr S. war der farblose Anblick noch abends in Erinnerung. „In ihrem beigen Popelin“, sagte er in der Sauna, „wirkten diese Menschen wie Asexuelle, die prima eine Lichtkur gebrauchen könnten.“ Herr H. nickte. Und Hakans Kopf glühte wie eine überreife Tomate. Er goß Wasser auf den Ofen. „Tja“, säuselte er durch die schweißtreibenden Schwaden, „es gibt viele, viele lichtkurbedürftige Menschen, bei denen im Bett nicht mehr die Post abgeht.“ Die Idee müsse ein Knüller werden. Endlich wurde auch klar, was Hakan in Helsinki zu tun hatte. Seine Flamme war dort seßhaft. Und wenn Hakan das Licht ganz besonders spürte, zog es ihn zu ihr. In der Tat hatte dieser Hotelmanager eine kernige Ausstrahlung, und nicht ohne Grund hatte ihm vor kurzem eine Römerin schöne Augen gemacht.

In der Morgendämmerung lag Herr H. noch wach, fühlte sich topfit. „Mhmm“, dachte er, „wenn das so ist, warum nicht schon aktiv sein.“ Er begann mit der Prozedur des Reisetaschepackens. Heimlich beobachtete ihn Herr S., wie er die Sachen zusammensuchte und mit der Akribie einer Spitzenklöpplerin faltete. „Glaubst du an die Wunderwaffe Licht?“ fragte er Herrn H., der vor Schreck eine Flasche mit Hautmilch fallen ließ. Das Lichtkur-Thema beschäftigte die Herren an diesem Tag bis spät in die Nacht. Sie hatten das Källan Spa verlassen und fuhren über die einsamen Straßen Lapplands. „Weißt du“, sagte Herr S., „die Sterne des sexuellen Glücks liegen im Menschen selbst. Der Glaube versetzt Hosen.“ Vor ihnen lag die Sonne, orangerot. Ein erotisches Moment.

Information: Club Nord, Darmstädter Landstraße 180, 60598 Frankfurt, Tel.: 069/9688650