"Blavatzkys Kinder" - Teil 43 (Krimi)

Teil 43

Mit schwerem Gerät stemmten sie das zweiflügelige Tor auf, durch das die Kindertransporte üblicherweise kamen. Die elf standen auf einem von Mauern umgebenen Zwischenhof. Was lag dahinter? Rechts eine Mauer, ein kleiner Garten, ein zweigeschossiges Haus. Links eine hohe Mauer, dahinter zwei oder drei Gebäude, unklar, wie die sich an die Rückseite des Schlosses fügten. Sie zögerten nicht. Wenn es hier Kinder gab, waren sie hinter den Mauern. Sie überwanden die nächste Mauer und drangen in den Keller des ersten Hauses ein.

Die Tür, die aus dem Keller in das Erdgeschoß führte, machte kein Geräusch. Miriam betrat es als erste. Es sah aus wie eine Krankenstation. Sie durchstießen eine Schwingtür, die in den Vorraum eines Operationssaales führte.

„Warum liefern die ihre Kranken nicht in das nächste Krankenhaus?“ Warum haben die einen so großen Operationssaal?“ fragte Tobias.

„Irgend etwas stimmt hier nicht. Wir haben keine Ahnung, was hier wirklich gespielt wird“, sagte Miriam.

Aus dem OP führte eine Schleuse durch eine Doppeltür in einen eiskalten Nebenraum. In der Mitte standen drei leere Bahren mit Rädern. Der Schrank vor der linken längeren Wand barg vier Reihen mit jeweils sechs Schubladen. Die vierundzwanzig gleichgroßen Schubladen waren jeweils etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter breit und ebenso hoch. Karo bibberte.

„Mir friert die Zunge am Gaumen fest. Warum ist es hier so kalt ... Was ist das für ein Schrank?“ Karo zog eine der metallenen Schubladen heraus. Nichts, nur eine Art Laken. Sie ruckelte an der nächsten.

„Karo, mach nicht solchen Krach. Wir müssen weiter.“

„Wartet. Die geht schwer. Da ist etwas drin.“ Die große Schublade ließ sich nur langsam öffnen. Ein Schwall kondensierte Luft drang aus der Lade. Miriam hob langsam das Laken. Das Mädchen hatte lange schwarze Haare. Es war nicht älter als acht oder neun Jahre und zierlich, bis auf die grobe Naht, mit der jemand einen tiefen Schnitt von der Kehle bis zum Schambein zusammengenäht hatte.

* * *

Schulte hob den Kopf. Was war das für ein Geräusch? Nichts. Wie sein Assistent war er Frühaufsteher. Robert sah ihn zuerst. Ein jüngerer Mann in Uniform an einem Schreibtisch. Sie wußten nicht, daß es sich um Schultes Assistenten handelte. Der hörte eine knarrende Bodendiele, drehte sich überrascht um.

„Was wollen Sie?“

„Schulte.“

Ein kurzer gehetzter Blick zu einer Tür am Ende des Raums zeigte Robert, wo er zu suchen hatte. Der Assistent tastete mit einem Fuß nach dem Alarmknopf unter seinem Schreibtisch.

„Einen Schritt nach vorn!“ brüllte Robert, der die Bewegung sah. Es war zu spät. Der Mann bewegte sich zwar nach vorn, warnte Schulte jedoch mit einem kurzen Tritt.

Was sollte das? dachte Schulte. Er fühlte sich belästigt, erhob sich und ging auf die Tür zum Nachbarzimmer zu.

* * *

Karo übergab sich in ein Waschbecken, während die anderen die Schublade für Schublade öffneten. Schon wollte Miriam erleichtert durchatmen, als sie in der vorletzten Lade einen Säugling fanden.

Auch ihm hatte jemand den Leib aufgeschnitten und mit wenigen großen Stichen behelfsmäßig zusammengenäht. Sein Schädel wies eine Narbe auf. Ein weiterer Schnitt am Hals war offensichtlich älter. Der Rumpf des Säuglings wirkte merkwürdig. Miriam überwand ihre Furcht und berührte die kleine Leiche. Die Rippen stachen hervor, die weichen Teile des Rumpfs fielen in sich zusammen. Das Kind war hohl. Sie ging wie betäubt zurück zu der Schublade mit dem kleinen schwarzhaarigen Mädchen und tippte mit dem Finger auf ihren Magen und ihren Bauch. Hohl.

Jetzt endlich begriff Miriam.

„Diese Schweine schlachten Kinder aus. Sie rauben sie. Sie quälen sie. Sie bringen sie um. Sie machen viel Geld damit. Deshalb ist Paul fast abgekratzt. Deshalb mußte Reuter sterben. Deshalb sind wir hier.“

Eine ungeheure Wut nahm ihr die Angst. Petrescu hatte recht gehabt.

„Was zur Hölle ist hier ...“ Schulte überblickte die Szene mit einem Blick. Sein Assistent lag bewußtlos am Boden. Er sprang zurück in sein Zimmer und ließ die stählernen Sicherheitsriegel zuschnappen. Dann drückte er den Alarmknopf, der ihn mit der Kaserne verband. Nichts regte sich. Er nahm ein Notfunkgerät aus dem Safe, funkte Alarmstufe drei und spähte zwischen den Ritzen des Rollos aus dem Fenster. Nichts. Vermutlich waren alle Gegner im Haus. Dann konnte er den Lebenshof nur noch von außen befreien. Er öffnete das Fenster und ließ sich an einem Seil hinab.

* * *

Stufe drei schlug ein wie eine Bombe. Der Alarm gab ihnen genau zwei Minuten Zeit: Uniform anziehen, volle Bewaffnung anlegen, vor der Tür strammstehen, auf Befehle warten.

Schulte schritt die Front ab. Sechzig Mann mußten genügen.

„Der Feind ist auf dem Gelände. Etwa zwei Dutzend Zivilpersonen.

Wir müssen aber damit rechnen, daß sie Verstärkung erhalten. Sie sind in den linken Flügel eingedrungen. Die Alarmanlage ist tot. Die Funkstation antwortet nicht. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Bisher ist kein Schuß gefallen, sie könnten jedoch bewaffnet sein. Befehl: Ergreift sie lebend. Nur wenn sie fliehen, von der Schußwaffe Gebrauch machen.“

Fortsetzung folgt