Von deutschen Seelenlandschaften

Alles Verdrängungskunst: Das Autorentreffen „Tunnel über der Spree“ im Literarischen Colloquium Berlin  ■ Von Jörg Plath

Ein Bonbon, Beschämung und unvermitteltes Bellen: das 10. Autorentreffen „Tunnel über der Spree“ an diesem Wochenende war für Überraschungen schlecht genug. Zum Abschluß am Samstag wurde den knapp dreißig deutschen Autoren und den anwesenden Journalisten Taslima Nasrin präsentiert wie ein aufgespießter Schmetterling. Seit drei Monaten lebe die in Bangladesch von Islamisten mit dem Tode Bedrohte in Berlin, sagte Peter Schneider. Man habe sie eingeladen, weil bisher niemand mit ihr geredet habe. Ein Bonbon also, doch nicht ein Schriftsteller sprach mit Nasrin. Dafür schrieb ihr Hans Christoph Buch vor, in welcher Sprache sie ihre Gedichte lesen sollte. Dann ließ die Tagungskarawane die Prominente links liegen und zog weiter. Welcher Geist hatte sich da im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee ausgebreitet?

Wohl keiner. Er muß Ausgang gehabt haben, auch am Freitag morgen, als über den „Krieg im ehemaligen Jugoslawien“ diskutiert werden sollte. Denn dazu kam es nicht. Just gestern am Schreibtisch schienen die Schriftsteller von dem nun vier Jahre dauernden Krieg überrascht worden zu sein. Christoph Dieckmann hatte die Chuzpe auszusprechen, was Maxime vieler (nicht nur in dieser Runde) schien: Er sei Pazifist, und was drohe, ihn darin zu stören, wolle er nicht wahrnehmen.

Das Tagungsthema war also eine quälende Herausforderung, die man weiträumig umging. Variante eins: die Mißachtung der Referenten Dubravka Ugrešić, David Rieff und Bora Ćosić. Der Schriftsteller Ćosić hatte einen Text vorgelegt, der im Gewand einer Popperlektüre Nationalismus und Terror in seiner nun Serbien genannten Heimat schildert. Pubertär, geißelte Thomas Hettche und wurde später nur von Jan Faktor getadelt. Daraufhin war Ćosić so höflich, der Diskussion weiter zuzuhören.

Variante zwei: Nichtzuständigkeit. Der Amerikaner David Rieff, Autor des eben erschienenen „Schlachthaus Bosnien“, schilderte den von ihm journalistisch begleiteten Krieg eindringlich als politisches Problem. Thomas Hettche und Alban N. Herbst zogen es vor, das moralische Mandat des Schriftstellers von sich zu weisen. Aber als politisch denkenden Menschen kam ihnen der Krieg offenbar nicht in den Sinn. Variante drei: Abbildungsprobleme. Die kroatische, jetzt im amerikanischen Exil lebende Schriftstellerin Dubravka Ugrešić forderte, die Masken einer „postmodernen Hölle“ zu enttarnen, in der die Faschisten nicht als Antifaschisten, sondern als Faschisten auftreten. Burkhard Spinnen und Lioba Happel forderten statt dessen eine neue Sprache, die die gewandelte Wirklichkeit abbildete. Variante vier: Rückzug. Die Verunsicherung durch David Rieffs, Peter Schneiders und H. C. Buchs Plädoyer für ein militärisches Eingreifen ließ einige schließlich an die unselige militärische Tradition des Deutschen Reichs erinnern. Natürlich in höchst allgemeiner Form: Die deutsche Terrorherrschaft in Kroatien zu erwähnen hätte eine wohl ungebührliche Annäherung an den Kriegsschauplatz bedeutet. Lieber förderten die Schriftsteller Erzählungen aus ihren NVA- und Bundeswehrdienstzeiten zu Tage. So reihte sich, von keiner Moderation gebremst, ein Offenbarungseid an den nächsten.

Alban N. Herbst unternahm als einziger den Versuch, den Pazifimus als Subversion zu verteidigen: Der Pazifist ordne sich keiner fremden (Befehls-)Gewalt unter. Angesichts dieses Pazifismus für die eigene Seele hatten H. C. Buch und Peter Schneider ein leichtes Spiel. Allein intellektuelle Zahnlosigkeit schien ja für Friedfertigkeit zu plädieren. Die Übergänge zwischen pazifistischen und militärischen Mitteln, welche militärischen Einsätze, wann, wo, von wem, mit welchem Ziel – diese moralisch und praktisch äußerst diffizilen Fragen mußten sie nicht erörtern. Statt dessen forderte H. C. Buch, den Krieg zu „denken“. Als „Katastrophentourist“ kritisiert, verteidigte er seine Reisen nach Sudan, Ruanda, Tschetschenien und Ex-Jugoslawien; Orte, die ihm nur noch im Viererpack über die Lippen kamen. Aha, ein Bitterfelder Weg der Kriegsbeobachtung, hätte Adolf Endler wahrscheinlich ausgerufen. Aber er war nicht erschienen.

Solch karge deutsche Seelenlandschaften auszustellen sorgte wohl für beträchtliche Beschämung. Das Thema zog sich bis zum Freitag nachmittag hin, bevor mit den Lesungen aus unveröffentlichten Texten und ihrer Diskussion begonnen wurde. Am Samstag äußerte sich dann diese Beschämung in einem plötzlichen Ausbruch. Richard Wagner, der am Tag zuvor nur einmal mißmutig gefragt hatte, was die Bundeswehrgeschichten mit dem Krieg im früheren Jugoslawien zu tun hätten, wollte Dieckmann nach seiner Lesung aus dem Haus der Literatur weisen, so schlecht sei sein Text gewesen. In diesem ansonsten kollegial harmoniesuchenden Kreis folgte ein Schlagabtausch mit ungewöhnlich harten, aufs Persönliche zielenden Tönen. Ein letztes Mal sollten literarische Maßstäbe gelten, wenn nicht in der Welt mit ihren Kriegen, nun, dann im „Tunnel über der Spree“. Eine letzte Verschiebung, ein letzter Aufruhr von Schriftstellern im Gehäuse. Von Elfenbeinturm konnte keine Rede sein.