Lidokino
: Die Natur des Ereignisses

■ Die USA erleben eine Renaissance von John Steinbeck in psychodramatischen Filmen über sexuellen Mißbrauch

Unsereins von der bürgerlichen Presse hat zu Stars, wie sie einem auf Festivals ja hier und da über den Weg laufen, ein äußerst kniffliges Verhältnis. Einerseits hat man sich inzwischen zu einer grundsätzlich wohlwollenden Haltung durchgerungen; sie gehören zum Kino wie das Opium ins Volk, werten damit auch rückwirkend die eigene, oft unter einem gewissen Relevanzproblem leidende Arbeit auf, und sie sehen irgendwie gut aus. Das laute Schwärmen, Autogrammjagen oder stundenlang an der Croisette stehen, um für zwei Minuten Catherine Deneuve vorbeisausen zu sehen, das will man allerdings doch lieber dem Pöbel überlassen.

Ein gewisser bourgeoiser Grundimpuls gegen die Aristokratie schlägt ihnen wohl auch noch entgegen: Haben sie irgendwas getan für ihren Ruhm? (Deshalb ist der Schwerstarbeiter Robert de Niro so beliebt.) Wo man ihnen professionell begegnet, befolgt man die Ratschläge, die auch im Umgang mit Vampiren gelten, nur daß man ihnen statt Knoblauch „intelligente Fragen“ hinhält. Ein Kollege vom Fernsehen, dessen täglich Brot solche Befragungen sind, berichtete, wie er vorgestern Jennifer Jason Leigh den schmalen Gang hinunterkommen sah, den er gerade von der Toilette kam. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, drehte er auf dem Absatz um, lief eiligen Schritts in seine Toilette zurück, überbrückte mit panischem Händewaschen die Zeit, die sie wahrscheinlich brauchen würde, um zu den Damen zu kommen, und tänzelte dann auf Zehenspitzen den Gang hinunter und hinaus ins Freie, wo es eines starken Getränks bedurfte, ihn wieder in Fasson zu bringen.

Jennifer Jason Leigh war hier, um Taylor Hackfords „Dolores Clairborne“ vorzustellen. Sie spielt hier, an der Seite von Übermutter Kathy Bates, eine junge Anwältin, die unter dem umstrittenen Repressed Memory Syndrome“ leidet: Sie erinnert sich erst spät im Film, daß ihr Vater sie tatsächlich sexuell mißbraucht hat. Mutter weiß es aber noch gut und hat den Alkoholiker (natürlich kommt beides zusammen) in eine Grube fahren lassen. Der Film verbindet auf bemerkenswerte Weise sexuellen Mißbrauch mit umwälzenden Naturereignissen: An dem Abend, an dem alles aufflog, gab es eine Sonnenfinsternis. Auch findet das Ganze auf einer Insel statt, wo andere Gesetze gelten als auf dem Festland – daß das Thema sexueller Mißbrauch irgendwann in die Steinbeck-Renaissance passen würde, war ja abzusehen. Als erste Meldungen über Kenneth Brannaghs neuen Film „In the bleak midwinter“ durchsickerten, fragte man sich ob des Titels noch: Is he depressed or what? Nun stellt sich aber heraus, es handelt sich um eine allerliebste, hochkomische Angelegenheit über eine Truppe aus Schauspieler-Losern, die in einer Kirche auf dem platten Land in Engelland einen Hamlet aufführen, against all odds. Genau wie Brannagh hier ist auch Claude Chabrol wieder bei dem angelangt, was er am besten kann: dem Wohnzimmer-Porträt der ländlichen Großbourgeoisie, nur daß hier in „La cérémonie“ als Ferment noch zwei Mädchen aus dem Volk dazukommen: eine kaugummikauende Vulga von der Post (Isabelle Huppert mit Minirock, Lederjacke und rosa Citroän) und ein stummer Küchenroboter, der nicht lesen und schreiben kann (Sandrine Bonnaire, ge-ni-al!). In beider Vergangenheit hat es Tote gegeben, aber: „Man hat nichts beweisen können.“

Den Roboter stellen die Herrschaften, recht sympathische Leute eigentlich, als Küchenmagd ein, was ihnen natürlich irgendwann einmal zum Verhängnis wird. Manchmal sehen sie abends im Fernsehen eine Oper, es ist der Don Giovanni diesmal, und dann ziehen sie sich schön an. Währenddessen, oben im Dachzimmer, hocken Cuisinière und Postmamsell bei einer französischen Version vom Glücksrad. Mariam Niroumand