Der Zwiespalt der Moderne

Die Wiener Philosophin Cornelia Klinger über Romantik, Moderne und Nationalsozialismus  ■ Von Peter Reichel

Monatelang war Ende des letzten Jahres der „German Romanticism“ das Kulturereignis in London. Daß die Ausstellung die NS-Kunst eher beiläufig als propagandistischen Mißbrauch der romantischen Tradition vorstellte, provozierte die heftigste Kontroverse. „As if Hitler never existed“ – empörte sich der Independent.

Die wenig später in Hitlers vormaligem Haus der Deutschen Kunst gezeigte Münchner Romantik-Ausstellung veränderte das Londoner Konzept. Man wartete mit wesentlich mehr NS-Kunst auf, degradierte sie aber zugleich – durch Hängung im Gang – und kommentierte sie also durch eine inszenatorische Geste. Kein Ersatz für eine kritische Auseinandersetzung mit dem komplizierten Verhältnis von Romantik, Nationalsozialismus und Moderne.

Eine solche eingehende Erörterung des Verhältnisses von Moderne und Gegenmoderne hat nun die Wiener Philosophin Cornelia Klinger vorgelegt. Den ästhetisch- sinnlichen Gegenwelten zur „kalten Rationalität“ der Moderne gilt nicht nur ihre wissenschaftliche Neugier, sondern auch ihre ganze Sympathie. In einem ersten Schritt wird erörtert, was den Blick auf das Romantische verstellt und dessen tendenzielle Abwertung verursacht – als vernunftzerstörenden Irrationalismus, als Subjektivismus, Innerlichkeit, Schwärmerei und Sentimentalität. Sei es, so Klinger, weil das Romantische als vormodern ausgegrenzt wird, sei es, weil die Abwertung des Romantischen aus der Unterscheidung verschiedener sozialer Sphären erfolgt.

Kunst und Sinnlichkeit nehmen in den Sozialwissenschaften einen eher nachgeordneten Rang ein, seit Max Weber das Konzept der Rationalisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Handlungsbereiche und Wertsphären zur Charakterisierung der Moderne eingeführt hat. Die Kunst bringt den Prozeß der wissenschaftlich-technischen Modernisierung nicht aktiv voran, sie begleitet ihn bloß, kommentiert ihn, ob verklärend, kritisch oder auch gänzlich ablehnend. Ebendeshalb erscheint diese Wertsphäre und mit ihr die Romantik in einem nichtrationalen oder auch antirationalen Licht. Für sie ist zentral, was für die anderen Sphären geradezu ausgeschlossen ist: die Suche nach „Einheit, Ganzheit und Sinn“ – so Cornelia Klingers Chiffre für die dritte Wertsphäre. Von ihr geht insofern für die auf Differenzierung gegründete und angewiesene Moderne eine latente Bedrohung aus. Ebendeshalb ist das politisch bedeutsame, womöglich gefährliche Potential des Ästhetischen, Erotischen und Religiösen in den privaten Bereich abgedrängt. Damit, so die Verfasserin, befindet sich aber „der dritte Wertsphärenbereich in einer hoffnungslos widersprüchlichen, ja paradoxen Position. Die Perspektive von Einheit, Ganzheit und Sinn im Medium des Subjektiven und noch dazu in einem ausdifferenzierten und partikularisierten Raum zu erhalten und zu entwickeln kommt einer Quadratur des Kreises gleich.“

Das prekäre Verhältnis zwischen den Wertsphären kann nun aber durchaus funktional gesehen und organisiert werden. Klinger nennt es „bürgerlich-affirmativ“, insofern die ästhetisch-erotische Weltflucht vor dem Zugriff der „kalten Skeletthände“ rationaler Ordnung eine kompensatorische Funktion erfüllt. Davon unterscheidet sie ein korrelatives Verhältnis der Wertsphären zueinander, Ausdruck einer avantgardistischen Kunstauffassung, die erklärtermaßen auf eine Versöhnung, eine neue Einheit von Kunst, Leben und Politik zielte. Daraus entsteht allerdings wiederum eine paradoxe Situation, insofern „die ästhetische Avantgarde, die sich als Speerspitze des Fortschritts und der Freiheit versteht, in die Nähe des gesellschaftlichen bzw. politischen Totalitarismus gerät“. Denn sie zielt ja auf eine Verbesserung der Verhältnisse in ihrer Totalität.

Romantik – Bestandteil der Moderne

Ihre aufschlußreichen Überlegungen resümiert Cornelia Klinger in einer Formel, in der alle zuvor erörterten Vorbehalte gleichsam aufgehoben sind. Bei der dritten Wertsphäre, der „Domäne von Kunst und Liebe“, handele es sich „weder um Restbestände der Vergangenheit noch um Vorboten der Zukunft, weder um einen exterritorialen Außenraum noch um einen geschützten Binnenraum, sondern ohne Wenn und Aber um einen Teil der Moderne“. Eine solche rhetorische Harmonisierungs- und Wunschformel verdeckt indes, was der Text durchaus erhellt. Denn daß die Suche nach Lebenssinn und Identität, nach Ganzheit und Einheit sich nicht ohne weiteres in den Bereich der privaten Lebenswelt abdrängen läßt, daß die „Fluchtversuche in objektive Verbindlichkeiten“ vielmehr immer wieder antipluralistische Protestbewegungen mobilisieren, ob in Gestalt des religiösen Fundamentalismus oder in der des ethnischen Nationalismus, steht außer Frage. Die aktuellen wie historischen Beispiele sind Legion, daß es eben kein „naturwüchsiges Junktim“ zwischen technisch-wissenschaftlichem Fortschritt, Wohlfahrtssteigerung und Rationalisierung der Lebensverhältnisse gibt. Die kulturelle Ungleichzeitigkeit und die ungleichen Modernisierungsgeschwindigkeiten sind das Problem. Und ebensowenig bestehen Zweifel, daß das Verhältnis zwischen der kulturellen und der politischen Sphäre prekär ist und bleibt. Nicht nur wegen der latenten Gefahr einer politischen Instrumentalisierung von Kunst und Massenkultur zur Verfolgung hegemonialer oder totalitärer Herrschaftsziele. Ein Gefährdungspotential liegt eben auch in der dritten Wertsphäre selbst, in der Ambivalenz der kulturellen Moderne zwischen Protest und Prophetie. Das Weimarer Beispiel lehrt es.

Es wäre wohl hilfreich gewesen, wenn die Autorin das auch thematisiert hätte. Die Moderne erscheint schon innerhalb der kulturellen Sphäre zweideutig und zwielichtig, weil die Einstellung der Avantgarde zur technisch-wissenschaftlichen Moderne selbst zwiespältig war. Man hätte zeigen können, daß die – zumindest zeitweise – Kollaboration der Gottfried Benn und Ezra Pound, Carl Orff und Richard Strauss, Le Corbusier, Gropius und Mies van der Rohe und anderer mit dem Nationalsozialismus kein Versehen war, sondern Gründe hatte.

Etwas unvermittelt steht man also schließlich vor diesem „dunkelsten Punkt“ im Verhältnis von Romantik und Moderne, dem deutschen Faschismus, und bedauert, daß dessen Aufstieg im Kontext der romantisch gefärbten Revolten und Protestbewegungen gegen die industriell-städtische, die politisch-demokratische und die ästhetisch-avantgardistische Moderne nicht wenigstens angedeutet ist. Hier wird auch in methodischer Hinsicht ein Sprung erkennbar. Die Verfasserin wechselt nun von ihrer ideen- und philosophiegeschichtlichen Argumentationsebene auf eine kultur- und politikgeschichtliche. Ihr Gegenstand sind jetzt politische Handlungen und nicht mehr die Diskurse der Romantik, literarische Strömungen, Werke und Kulturbewegungen. Aus ihnen hatte sie material- und kenntnisreich das Profil der historischen Romantik gewonnen und die Wiederkehr des „romantischen Syndroms“ in späteren Konstellationen beschrieben.

Das Gespenst des Totalitarismus

Sieben Merkmale dieses Syndroms hatte sie herausgearbeitet: die Umdeutung des politischen in einen kulturellen Revolutionsbegriff; die Erweiterung und Radikalisierung von Gesellschaftskritik zur Zivilisationskritik; die Wendung zum Subjekt(iven); die Wendung zur Ästhetik; die Wendung zur Gemeinschaft; die Wendung zur Natur; und nicht zuletzt die zur Religion, zum Mythos. In einer Zwischenbilanz konstatiert Klinger das Scheitern romantischer Sinn-, Einheits- und Ganzheitssuche. „Der Wunsch, sich an den, die oder das andere(n) zu verlieren, erweist sich als unerfüllbar“, gerade weil der „Primat der Subjektivität“, die „zentrale Bedeutung des Ich“, erhalten bleibt. Mochte die Verheißung auch unrealistisch sein, so hat die Lebensreformbewegung aber durchaus zur Pluralisierung und Modernisierung der Industriegesellschaft beigetragen, gegen die sich ihr Protest so vehement gerichtet hatte.

Weit weniger harmlos und funktional verlief und endete der antigesellschaftliche Auf- und Ausbruch in romantischer Gemeinschaftssehnsucht. „Bei der Wendung zur Gemeinschaft“, so Cornelia Klinger zugespitzt und treffend, „tritt das Gespenst des Totalitarismus, das mit der ästhetisch- romantischen Sehnsucht nach Ganzheit, Einheit und Sinn prinzipiell latent verbunden ist, am manifestesten zutage.“ Gerade weil der Primat der Subjektivität hier aufgegeben wird und das Ich in der Gemeinschaft auf- oder richtiger: untergeht.

Zum Schluß gilt Cornelia Klingers Interesse nun aber nicht mehr kulturellen Bewegungen und literarisch-philosophischen Werken, sondern eben einem politischen Großereignis, dem NS-Staat. Und weil dieser mit dem „romantischen Syndrom“ Herrschaftsziele verfolgt hat, wird er im Rahmen dieser Studie zu Recht so ernst genommen. Der von vielen antimodern- modernen Protestbewegungen und ihren Propheten propagierte Glaube an die Wiedergeburt des einzelnen wie die des Volkes – ob durch das Medium der Lebensreform, der Kunsterneuerung oder durch das des Krieges – war ja nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil er mit romantischen Versatzstücken operierte und weil er die Überwindung von Politik und bürgerlichen Institutionen versprach und ihre Rückverwandlung in (politische) Religion und Kunst, in Führung und Gemeinschaft verhieß.

Kultur gegen westliche Oberflächlichkeit

Eindeutigkeit und Einheit waren gefragt, nach Sinn wurde gesucht, nach nationaler Größe und nicht zuletzt nach einem heroisch-ästhetischen Ausdruck. Die politischen Propheten und Regisseure setzten den Mythos über die Vernunft, die Erweckung über die Erfahrung, „deutsche Tiefe“, Gemüt und Glauben, gegen „westliche Oberflächlichkeit“ und „Seelenlosigkeit“. Die Lösungen ihrer dualistischen Weltsicht hießen deutsche Kultur statt westlicher Zivilisation, Idealismus statt Materialismus, Volk statt Masse, Volks-Gemeinschaft statt Klassen-Gesellschaft, „Rassenpflege“, Raumordnung und „völkische Gesundung“ zur Vermeidung von Chaos und zur Abwehr vorgeblicher Verfalls- und „Entartungs“tendenzen. Tatsächlich mobilisierten die Nazis die Massen mehr mit „ästhetischen Surrogaten“ als mit „materiellen Gratifikationen“, wie Cornelia Klinger treffend schreibt.

Die auch von ihr gestellte Frage, warum der NS-Staat damit so erfolgreich war, ist leicht beantwortet: weil er symbolisch-ästhetische Gratifikationen mit materiellen verknüpfte, wie begrenzt sie auch gewährt wurden. Aber sie konnten als Vorschein, als Versprechen auf eine bessere Zukunft mißverstanden werden.

Mit dem Mißbrauch insbesondere des romantischen Syndroms durch die Nazis ist die Sensibilität für die politische Instrumentalisierung der dritten Wertsphäre gewachsen. Doch das Dilemma des romantischen Lebensentwurfs bleibt bestehen: die Steigerung der Subjektivität einerseits und das eben dadurch freigesetzte Bedürfnis nach Erlösung von ihr, nach Aufhebung in ganzheitlichen Verhältnissen, heißen die Beziehungen nun Ich-Du, Ich-Wir oder Ich- Umwelt und ihre Medien Liebe, Geschichte/Politik, Religion oder Natur. Cornelia Klinger beschließt ihre Studie denn auch mit einem eher verhaltenen Akkord. Romantik – was bleibt? fragt sie zum Schluß und hat nur noch eine karge, gänzlich desillusionierte Antwort: Individualisierung und Ästhetisierung, die dominanten kulturellen Tendenzen unserer Zeit, die auf „ein Anderes“ verweisen, aber „selbst kein Anderes“ mehr sind.

Cornelia Klinger: „Flucht Trost Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten“. Carl Hanser Verlag 1995, 286 Seiten, geb., 45 DM