Aufschneiden. Reingucken. Zunähen.

Am Gerichtsmedizinischen Institut der Freien Universität wird nicht nur nach Todesursachen gesucht, sondern auch schon mal ein Vaterschaftsgutachten erstellt / Forschung zu Säuglingstod und Drogensucht  ■ Von Peter Lerch

Auf den Chromtischen stehen noch Wasserlachen. Skalpelle und robuste Messer, mit auffallend stabilen Klingen, liegen auf einem Aufbau am Fußende – zweckdienlich, um Brustkörbe und Bauchhöhlen von Toten aufzuschneiden. Der Saal mit den vier Tischen ist gekachelt und mit einem Belüftungssystem ausgerüstet. Es ist kaum zu glauben, daß hier vor einer Viertelstunde noch Schädel aufgesägt und Brustkörbe aufgestemmt wurden.

Professor Volkmar Schneider, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, macht einen Job, der bei den meisten Normalverbrauchern die sofortige Wiederaufführung der letzten fünf Mahlzeiten nach sich ziehen würde. Auf das Inventar weisend erklärt er, daß hier bis zu vier Leichen gleichzeitig obduziert werden können. Dann hastet er durch das toxikologische Labor, wo mittels Gaschromatografen biologische und chemische Feinuntersuchungen durchgeführt werden. „Man muß lange suchen, um in Deutschland eine gleichwertige Einrichtung zu finden“, erklärt er stolz und führt mich raschen Schrittes durch die Flure des Neubaus.

Zeit ist knapp für den Chef der Gerichtsmedizin, denn neben seiner hiesigen Arbeit leitet er noch das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin, bildet Studenten aus und ist Vizepräsident der FU. An den Wänden der idyllisch gelegenen Dahlemer Villa hängen Fotos: Detailaufnahmen von Strangulierten, Erschossenen und von Wasserleichen. Ein Bild zeigt ein paar Füße, die von Elektrokabeln verschmort sind und den mörderischen Erfindungsreichtum dokumentieren, den der Homo sapiens an den Tag legt, wenn es darum geht, die eigenen Reihen zu lichten. Dann sind Fotografien von Tätowierungen zu sehen, die bei der Identifikation von unbekannten Toten hilfreich waren.

Obduziert wird hier jeder, dessen Todesursache nicht einwandfrei geklärt ist. Wenn der Arzt auf dem Totenschein etwas anderes als „Natürliche Todesursache“ schreibt, dann beschlagnahmt zunächst die Polizei den sterblichen Überrest und meldet den Fall der Staatsanwaltschaft, die eine gerichtliche Leichenöffnung erwirkt. Die entscheidende Frage lautet dann: Tötung, Selbsttötung oder Unfall? Auch wenn der aufgefundene Leichnahm ganz offensichtlich an einer Schußverletzung im Kopf gestorben ist, werden bei der Oduktion alle drei Körperhöhlen geöffnet. Schließlich wäre es ja möglich, daß das Opfer der Schußverletzung ganz anders zu Tode kam, also ein Sterbender ermordet wurde.

In Anwesenheit von zwei Gerichtsärzten, Fotografen und Ermittlungsbeamten der Kripo werden dann die Organe entnommen. Sie werden gewogen, auf Verletzungen oder Veränderungen untersucht, fotografiert und im Bedarfsfalle auch chemisch-toxikologisch oder bakteriologisch-virologisch durchgecheckt. Dabei spricht der Gerichtsmediziner sein vorläufiges Gutachten auf ein Diktiergerät. „Meistens reicht das vorläufige Gutachten aus, um die Toten zur Bestattung freizugeben“, erklärt Professor Schneider, der drei Viertel aller zu obduzierenden Leichen selbst sieht.

Seit 28 Jahren macht er das schon, und seitdem sind 45.000 Tote über seine Tische gegangen. „Was ganz Neues sieht man selten, aber man lernt täglich dazu“, erklärt der weißhaarige Mediziner, der ursprünglich Psychiater oder Orthopäde werden wollte. Aber die Rechtsmedizin, ein Fach mit vielen Seitenfächern, das naturwissenschaftlich betrachtet eines der interessantesten medizinischen Aufgabengebiete sein dürfte, faszinierte Volkmar Schneider, und er blieb dabei.

Die Zeiten, in denen dem Job des Pathologen noch etwas vom seligen Dr. Frankenstein anhaftete, sind längst vorbei. Eine Erkenntnis, die sich auch immer häufiger bei Medizinstudenten durchzusetzen scheint. Mehr als 360 Studenten melden sich jährlich, um Gerichtsmediziner zu werden.

Die DNA-Analyse hat das Fach revolutioniert: Genetische Fingerabdrücke steigern die Aussagewahrscheinlichkeit bei Blutuntersuchungen auf 99,98 Prozent. Anhand eines Kopfhaares ist die Gerichtsmedizin in der Lage, einem Drogenkonsumenten exakt und auf den Tag genau nachzuweisen, wann er welche Droge zu sich genommen hat. Bei Blutalkoholuntersuchungen sei es möglich, zu erkennen, ob jemand Bier, Wein oder Sekt zu sich genommen habe. Trotz allem kommt es in ein bis fünf Prozent aller Fälle nicht zur Klärung der Todesursache. Besonders stark verfaulte Leichen machen ihm und den anderen posthumen Detektiven mitunter Probleme. Nicht weil sie riechen, das verkraftet ein Gerichtsmediziner. Aber am faulenden Gewebe lassen sich exakte Spuren nur schwer nachweisen.

Muß man bei derartigen Tätigkeiten nicht unweigerlich zum Pegeltrinker werden? Vor einer Rembrandt-Kopie – „Die Anatomie des Dr. Tulp“ – räumt der Professor mit diesem Vorurteil gegenüber dem Gewerbe auf. Das Klischee vom stets angetrunkenen Leichenfreak, der seinen Ekel in Alkohol badet, entbehre jeglicher Grundlage. In seinem Institut herrscht striktes Alkoholverbot. „Man muß den Abstand bewahren, darf die Erlebnisse nicht mit nach Hause schleppen“, sagt er und gibt dennoch zu, daß es auch Fälle gibt, die ihn belasten und nicht so ohne weiteres nur von der naturwissenschaftlichen Seite zu betrachten sind.

So lassen beispielsweise ermordete Kinder den erfahrenen Gerichtsmediziner nicht gleichgültig. „Man bekommt in unserem Fach Einblicke in menschliche Bereiche, die anderen verschlossen sind. Und man entwickelt ein anderes Verhältnis zum Tod und vielleicht auch zum eigenen Sterben“, sagt der Mediziner, den seine Arbeit nicht abgebrühter, sondern eher nachdenklicher, empfindsamer, aber auch dankbarer gemacht hat. Wichtig ist ihm auch, daß „seine Leichen“ mit Ehrfurcht behandelt werden. Das bedeutet unter anderem, daß seine Mitarbeiter so sauber arbeiten, daß die obduzierten Toten anschließend wieder vorzeigbar sind. „Eine Obduktion ist eine Operation an der Leiche“, lautet Schneiders Devise, die er auch seinen Kollegen abverlangt. Den Handel mit Leichenteilen wie beispielsweise den Verkauf von Hirnhäuten lehnt der Professor ab. Auch zu ihm seien schon Vertreter von Pharmaunternehmen gekommen, um ihm die für Transplantationen nahezu unentbehrlichen Häute abzukaufen.

Neben dem Aufschneiden, Reingucken und wieder Zunähen von Toten, hat die Gerichtsmedizin aber auch noch andere Aufgaben. So wird am Gerichtsmedizinischen Institut der FU auch der „Plötzliche Säuglingstod“ und die Drogensucht erforscht und mittels der DNA-Analyse gerichtliche oder privat in Auftrag gegebene Vaterschaftsuntersuchungen durchgeführt.

Neben alledem gehört auch die Begutachtung von Lebenden zu den Arbeiten des Instituts. Eine Abwechslung, die Volkmar Schneider, dem es eine Lust ist Professor für Rechtsmedizin zu sein, zwölf Stunden am Tag fasziniert. Auch wenn der „Untersuchungsgegenstand“ gar nicht lustig ist. So war er beispielsweise als Gutachter bei der Verhandlung gegen den Boxer Bubi Scholz beteiligt, der seine Frau durch die Toilettentür hindurch erschossen hat. Die Vaterschaftsbegutachtung in Sachen des Beatles Paul McCartney gehörte ebenso zu seinen Aufgaben wie die Untersuchung mehrerer Mitglieder des Politbüros der ehemaligen DDR, einschließlich des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.