Der Halbkurze Von Michael Rudolf

Hans, auch der Halbkurze geheißen, ist zweiundfünfzig. Man ginge nicht fehl, zu behaupten, sein Ringen um Erkenntnis verlöre sich im Detail. Ihm ist es nicht vergönnt, gegen seine unglaubliche Transpiration auch nur Teilerfolge zu erringen; ebenso niederschmetternd sind die Ergebnisse seiner täglichen Rasuren. Und eine etwas zu kurz geratene Anatomie verwehrt ihm weitestgehend die Lautbildung, wie wir sie üblicherweise kennen, die wir die Sprache zur Verständigung nutzen. Schon frühzeitig hatte er eine Abneigung gegen die Welt, so wie sie sich ihm darbot, gefaßt und fiel daher zuweilen über sich selbst her. In Summa: Er hat schwer einen an der Klatsche.

Hans siedelt um die Ecke im Kellergelaß einer zur Seniorenresidenz umgewidmeten ehemaligen Fabrikantenvilla. Hans hat sich rundum Milchglasscheiben eingebaut, die er ständig mit lauwarmer Milch nacharbeitet, damit ihm keiner auf den Tisch gucken kann. Hans vertritt aber auch die Ansicht, wenn er die Heizung hochdreht und Fenster und Türen aufreißt, den kleinen Grundstückstümpel den gesamten Winter über am Einfrieren hindern zu können. Hans kann auch große und kleine Beträge Geldes nicht auseinanderhalten, denn es gebricht ihm am Wissen um Buchstabe und Zahl. Seine mit der Lötlampe heimlich gegrillten Kleinnager hingegen genießen bei den Heiminsassen den Ruf einer Spezialität.

Gestern lud mich der mildtätige Hans „auf einen Schluck“ Selbstgebrannten in sein kryptisches Gemach. Allerhand Wichtiges habe er mir zu eröffnen. Hans bekundete alle möglichen Arten von Ausgelassenheit, schenkte fleißig nach und zitierte einfallsreich aus seinem Einfallsreich. Hans will seinem Leben eine abschließende Wendung geben. Gutes wolle er der Welt antun, denn sie sei im Grunde schlecht, darum habe er auch geheimnisvolle Kräuter in das Destillat getan. Meine ausgesucht höflich vorgetragenen Einwände schmetterte er im Wildwestidiom ab, keine Ahnung hätte ich. Dafür begann mir sein Fusel Ungelegenheiten zu bereiten und mich auf sein Lager zu werfen.

Von einer namhaften Eisenbahnbrücke der Region wolle er „für den guten Zweck“ springen und beschrieb mir schon in eindrucksvollen Bildern die vor Staunen offenen triefenden Mäuler der spendenbereiten Menge. Die wichtigsten Probleme der Menschheit habe er sich bereits auf das Bettlaken gemalt, worin gewandet er den großen finalen Sprung ins Werk setzen wolle. Sprach's und verschwand. Ihn davon abhalten? So abgebrannt, wie ich gerade zwischen den Heizungsrohren dahinsiechte? Verzweiflung kam mich an und ein nicht geringer Schrecken. Mit rasselndem Atem keuchte ich, so gut es ging, Hans dem Halbkurzen hinterher und rief und rief ...

Ein besorgter Schutzmann war es, der mich weckte und auf meine vom Tau benäßten Schürfwunden und Schründe wies. Ob ich über die um mich verteilte Blechinstallation, die ad exemplum ein Fahrrad oder auch Teile eines Gartenzaunes vorstellen könne, das Eigentumsrecht ausübte und ob ich schon die ganze Nacht so liege und schrie. Er heiße übrigens Hans. Und bei der Gelegenheit: Welches besoffene Aas sich denn bitte da hinten in bunt bekritzeltem Linnen wälze.