Heimspiel auf CNN

Taslima Nasrin war da, die Bundestagsvizepräsidentin auch, und das Publikum schmunzelte: Günter Grass las in Berlin aus seinem neuen Roman  ■ Von Jörg Lau

Die „Kulturbrauerei“ am Prenzlauer Berg ist eines jener Gebäude aus der heroischen Zeit des deutschen Unternehmertums, als die aufstrebenden Industriellen ihren neuen Reichtum mit historischen Draperien zu legitimieren suchten. In keiner Branche war dies so deutlich wie im Brauereiwesen: Die gewaltigen Bierströme, die den Durst und das aufflammende Klassenbewußtsein der Berliner Arbeiterschaft zu löschen hatten, entsprangen jenen falschen Raubritterburgen, die heute noch das Stadtbild prägen, wenn auch unterdessen Kulturzentren und Möbelmärkte in ihnen residieren.

Der Ort für die Lesung aus Günter Grass' neuem Roman hätte also kaum glücklicher gewählt werden können, will uns doch der Dichter in „Ein weites Feld“ die jüngsten Ereignisse als Wiederkehr des Altbekannten, als eine zweite deutsche Gründerzeit erscheinen lassen. Man sieht die falschen Burgmauern, man sieht den Turm und die Zinnen, hinter denen die Parvenüs des letzten Jahrhunderts moderne Industrieanlagen verschwinden ließen, und ist versucht, in diesem Ort eine backsteinerne Allegorie der Schreibweise von Günter Grass zu sehen.

Freilich gibt es schlichtere Gründe für die Wahl des Ortes. Grass hat schon sein letztes Buch hier vorgestellt, und in Kapitel 36 hat auch Theo Wuttke alias Fonty, der Protagonist aus „Ein weites Feld“, einen Auftritt in der Kulturbrauerei – aus dieser Passage wird später gelesen. Eine Dichterlesung? Eine jener unzeitgemäßen Versammlungen, bei denen sich die paar verbliebenen Literaturgroupies aneinander wärmen? Natürlich nicht! Acht Kamerateams waren im ehemaligen Kesselhaus versammelt. Vermutlich war dies die erste deutschsprachige Buchpremiere, die sich unter den wachsamen Augen der Weltpresse vollzog. Und selbst das Auge der Augen ruhte auf diesem Ort – Ted Turner, Mogul des Mediums der Medien, hatte seine Leute geschickt, um dem Ereignis den höchsten Wirklichkeitsrang zu verleihen: Wir waren auf CNN!

Was für ein Auftrieb von Prominenz: Stefan Heym, Antje Vollmer und Taslima Nasrin waren sich nicht zu schade; Kultursenatoren, Verlagslektoren und Fernsehmoderatoren, zu schweigen von all jenen berühmten Gesichtern, die einem so vertraut sind, daß man die Namen immer wieder vergißt. Doch berühmte Menschen müssen so manches über sich ergehen lassen, von dem sich unsereiner keinen Begriff macht. Feinde und Neider scheinen dem gewöhnlichen Volk meist das Hauptproblem des Ruhms; dabei wird unterschätzt, was es bedeutet, sich nicht nur die Feinde, sondern schlimmer: die Freunde nicht aussuchen zu können. So hatte denn Günter Grass zunächst eine Solidaritätsadresse jener sanft verrückten Menschen hinzunehmen, die zu dritt vor dem Spiegel-Gebäude gegen die Titelgestaltung des Heftes demonstriert hatten.

Nach Grußworten des Kultursenators hatte dann endlich der Dichter das Wort. Er sprach kurz von fehlgeschlagenen Versuchen, ihn hinzurichten, er lebe noch und gedenke dies auch weiter zu tun. Am Tisch der Sieger habe er ohnehin nicht sitzen wollen, sagt er trotzig, sein Platz sei dort, „wo die Betroffenen sind“. Dann beginnt Günter Grass zu lesen. Der Trotz in der Stimme ist heute abend ganz überflüssig, denn unter den vielen hundert Zuhörern sind lauter freundliche Gesichter – ein Heimspiel. Während der Dichter auf seine bekannt störrisch-rhythmische Weise liest und dazu in bewährter Manier mit dem Oberkörper hackende, spechtartige Bewegungen in Richtung auf sein Pult ausführt, ist immer wieder hier ein amüsiertes Kichern, dort ein leises Höhöhö zu hören. Merkt Günter Grass, daß die Leute ihn lieben? Schwer zu sagen. Er arbeitet, legt sich ins Zeug. Ein fleißiger Specht, der nicht ruht, bis das Loch groß genug ist. Günter Grass liest nicht gut. Wer das Buch nicht kennt, wird kaum folgen können. Es geht um die Treuhand, um Birgit Breuel und Jenny Treibel, wie alles schon mal dagewesen ist und immer wiederkommt. So genau kommt es schließlich auch nicht darauf an.

Die Menschen sind gekommen, um Günter Grass nach den harten Verrissen nicht allein im Regen stehenzulassen. Das ist irgendwie rührend, um so mehr als das umstrittenene Buch, vom Dichter selbst gelesen, seine Schwächen noch drastischer offenbart. Kein einziges Mal wird laut gelacht – und das bei einem Roman, der beansprucht, die pikareske Tradition fortzusetzen. Aber geschmunzelt wird viel – wenn schlüpfrige Andeutungen fallen, wenn die Treuhand milde ironisiert wird –, man möchte sagen, es liegt ein Schmunzeln über dem Ort.

Dann ist die Lesung zu Ende, die Debatte wird eröffnet. Sie dauert kaum zehn Minuten. Allgemeine Erleichterung, daß keine unangenehmen Fragen aufkommen. Günter Grass signiert. Es gibt noch ein Büffet. Es regnet. Sei's drum. Schwer donnert die Hochbahn an den falschen Burgmauern vorbei.