■ Erfolgreiche Offensive der afghanischen Taliban
: Der Weg über Herat

Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Falls sich die Nachricht von der Eroberung der Stadt Herat im Westen Afghanistans bestätigt, ist ihnen im Kampf gegen das Regime von Präsident Rabbani ein wichtiger Sieg geglückt. Überraschend ist dabei nicht so sehr die militärische Komponente, denn Herat fiel den Siegern nach dem Fall der Luftwaffenbasis Shindand am Sonntag offenbar kampflos zu. Überraschend ist vielmehr der Wiederaufstieg der Taliban, nachdem sie während fünf Monaten vollständig von der afghanischen Szene verschwunden waren.

Vor einem Jahr noch eine unbekannte Größe, war die Schar islamischer „Studenten“ im November 1994 plötzlich im Süden des Landes aufgetaucht, hatte innert kurzer Zeit neun Provinzen erobert, eine Reihe kriegsgewohnter Mudschaheddin – darunter den mächtigen Gulbuddin Hekmatjar – beiseite gewischt und stand vor den Toren Kabuls. Hier fanden sie im letzten März in Massud, Rabbanis Oberbefehlshaber, scheinbar ihren Meister. Sie mußten erleben, daß dessen Soldaten nicht, wie gewohnt, zu ihnen überliefen, kaum daß sie Allah riefen, in dessen Namen sie Afghanistan von den Kriegsgewinnlern reinigen wollten. Der militärischen Schlappe folgte ein inoffizieller Waffenstillstand, den Massud und Rabbani dazu benutzten, im halbzerstörten Kabul die Trümmer wegzuräumen und sich auf dem internationalen Parkett wieder präsentabel herzurichten – die Wiedereröffnung mehrerer Botschaften bewies den Erfolg dieses Unterfangens.

Doch die Taliban waren in ihrer Hochburg Kandahar nicht untätig geblieben. Die „Studenten“ rekrutieren sich dort aus den Flüchtlingslagern in Pakistan, wurden in Koran und Kalaschnikow ausgebildet. Ihr Ziel, so lauten gewisse Theorien, ist nicht nur die Wiedervereinigung des Landes unter Führung der sunnitischen Paschtunen. Sie sollen gleichzeitig für Pakistan den Weg nach Zentralasien frei machen, um dessen Gunst sich Islamabad gegen seine Rivalen Iran und Türkei bewirbt. Und dieser Weg führt, solange Kabul umkämpft ist, über Herat. Die Eroberung Herats öffnet daher nicht nur eine alte Handelsstraße ins Herz Asiens, sie bringt auch die beiden Hauptfeinde von Rabbani – Taliban im Süden und Raschid Dostam im Norden – in Kontaktnähe. Und sie stoppt Rabbanis Versuch, durch Verbindung der Westregion mit Kabul diese enger werdende Schlinge zu durchschneiden. Bernard Imhasly, Delhi