Die Wende im Privatleben

Von der Feministin bis zur Hausfrau oder Sekretärin: Japanerinnen fordern Selbstbestimmung und Gleichberechtigung  ■ Aus Tokio Chikako Yamamoto

Es ist schon lange her, daß Japan die Hoffnung hegte, eine Premierministerin an seine Spitze zu wählen. Die ehemalige Parteichefin der Sozialdemokraten und Hoffnungsträgerin von damals, Takako Doi, gelangte im Chaos der politischen Veränderungen während der letzten Jahre auf den Sessel der Parlamentspräsidentin des Unterhauses. Da sitzt sie heute, weitab von den Entscheidungen der Machtpolitik, und schweigt.

Von ihrem parlamentarischen Thron überschaut Doi einen Saal voller grauer Männeranzüge. Man zählt gerade dreizehn Frauen im Unterhaus, beim demokratischen Aufbruch nach Kriegsende hatten die JapanerInnen immerhin noch 39 Frauen in die wichtigste Parlamentskammer gewählt. Heute beträgt dort der Frauenanteil nicht einmal drei Prozent, kaum mehr als in den meisten Nachkriegsjahren. Ein Symbol für die Stagnation der japanischen Frauenbewegung?

Fünftausend Japanerinnen sind Ende August nach Peking aufgebrochen. Ihre Zahl wird auf der UN-Frauenkonferenz nur von den US-Amerikanerinnen übertroffen. Aus allen Ecken der Gesellschaft haben sich Japanerinnen auf den Weg gemacht: Rechtsanwältinnen, die für eine Änderung des japanischen Abtreibungsrechts streiten, Politikerinnen, die unter der Prostitutionsgesetzgebung in Zukunft die Männer bestrafen wollen, Wissenschaftlerinnen, die sich gegen eine frauenfeindliche Anwendung der Gentechnologie wenden. Vor allem aber zieht ein buntes Feld von Aktivistinnen nach Peking: Frauengruppen, die für Solidarität mit den von japanischen Soldaten im Krieg vergewaltigten Koreanerinnen werben, die für eine bessere Behandlung alleinerziehender Mütter streiten, oder die die versteckte Gewalt von Männern in der Familie anprangern.

Allein die im Vergleich zu früheren Weltfrauenkonferenzen ungleich stärkere Präsenz der Japanerinnen macht deutlich, daß es inzwischen kein Thema der internationalen Frauenbewegung mehr gibt, das nicht bis Japan vorgedrungen ist und dort auch seine Advokatinnen gefunden hat.

Das auch im Westen weit verbreitete Klischee von der Japanerin, die gehorsam, zärtlich, zurückhaltend und geduldig ist, besitzt längst keine Allgemeingültigkeit mehr. Immer mehr Frauen lassen sich nicht mehr von ihren Männern oder Vorgesetzten herumkommandieren. Von der engagierten Feministin, die in diesen Tagen nach Peking reist, bis zur sogenannten office lady, die den Herren im Büro den Tee serviert, hat sich ein neues Frauenbewußtsein in der Gesellschaft entwickelt, das zuvor gar nicht selbstverständliche Grundwerte wie die weibliche Selbstbestimmung und Gleichberechtigung fest in den Köpfen etabliert hat.

Entscheidende gesellschaftliche Veränderungen verlaufen in Japan jedoch auf subtilere Art und Weise als im Westen. Sie werden nur selten auf offener Bühne ausgefochten – weshalb Japan vermutlich keine Alice Schwarzer braucht – und bekommen erst dann ihre unwiderstehliche Durchsetzungskraft, wenn sie von allen als unvermeidlich angesehen werden. Insofern relativiert sich die Bedeutung einer feministischen Avantgarde im Vergleich zum Westen. Aber Japan neigt dazu, alte Traditionen äußerst schnell abzuwerfen, wenn sie sich erst einmal als hinderlich auf dem Weg des Fortschritts erwiesen haben. In einer solchen schnellen Umbruchphase den Wertewandel mitzubestimmen ist fraglos die große Chance der Frauenbewegung in Japan.

Kein Zweifel besteht, daß die Japaner und Japanerinnen sich mitten in einer Revolution ihres Privatlebens befinden. Der Strukturwandel ist nicht mehr aufzuhalten. In den japanischen Großstädten leben heute fast nur noch Kleinfamilien. Selbst von der normalen Hausfrau ist zwischen Haushalt und Kindererziehung vor allem eins gefragt: Selbständigkeit.

Schon heiraten die jungen Menschen in den Städten nicht mehr durch die traditionelle Vermittlung, sondern suchen sich ihre Partnerin oder ihren Partner selbst aus. Für die Frauen ist dabei entscheidend, daß es inzwischen zur Norm gehört, erst ab Mitte zwanzig zu heiraten. Das gibt ihnen die im späteren Leben unbezahlbare Zeit, sich nach der Ausbildung zunächst einen Arbeitsplatz zu suchen, anstatt von Schule und Universität direkt ins Familienleben zu wechseln. Natürlich hat der sich aufgrund des späteren Heiratens öffnende Lebenshorizont etwas damit zu tun, daß die Kinderzahl der meisten japanischen Familien heute zwischen eins und zwei liegt. Solange die Väter nicht miterziehen, gilt eben die Regel: Je weniger Kinder, desto größer die Freiheit der Mütter.

In den meisten japanischen Familien machen sich die Väter weiterhin rar. Sie gehen frühmorgens aus dem Haus zum Arbeitsplatz und kommen erst spät am Abend wieder. Dadurch wird die Kindererziehung zur alleinigen Sache der Mutter, was in Japan auch im höheren Schulalter noch mit echter Arbeit verbunden ist. Das extrem kompetitive japanische Erziehungssystem zwingt die Mutter zur ständigen Überwachung der Schulleistungen ihres Kindes samt einer sorgfältigen Karriereplanung. Oft entsteht dabei eine so enge Beziehung zwischen Mutter und Kindern, daß beide Teile im späteren Leben nicht mehr auseinanderkommen.

Vor ein paar Jahren zeigte ein populäres Fernsehdrama eine solche Mutter-Sohn-Beziehung. Der Held, ein etwas weichlicher, aber hochintelligenter Knabe, wird darin als Kind von seiner Mutter von vorne bis hinten umsorgt. Obgleich unselbständig, absovliert er als Erwachsener eine Elite-Karriere, von der in Japan alle Männer träumen. Die Katastrophe aber naht mit der ersten Frau: Von der verlangt er, genauso wie seine Mutter zu sein, woran die Ehe prompt scheitert. Populär wurde diese TV-Geschichte freilich nicht so sehr, weil sie die problematische Rolle der Mutter aufzeigte. Ihr Erfolg beruhte vielmehr darauf, daß sie mit ihrem Hauptdarsteller das stärkere Geschlecht der Lächerlichkeit preisgab. Wo der Mann nur am Arbeitsplatz seine Identität findet, wird er als Lebenspartner uninteressant.

Die Abwesenheit der Ehemänner in der Familie erweist sich also nicht nur bei der Kindererziehung als Falle für die männliche Selbständigkeit. Sie führt auch dazu, daß die meisten Ehepaare sich mit der Zeit völlig auseinanderleben. Solange die Männer arbeiten, mag das noch gutgehen. Ganz neue Probleme aber tun sich auf, wenn der Mann als Rentner in die Familie zurückkehrt. Fortan ist er immer zu Hause, findet aber keinerlei Beschäftigung, da es für ihn zuvor nur die Arbeitswelt gab. Für Frauen werden solche Männer eine große Last. Sie sitzen herum und wollen dreimal am Tag Essen bekommen. Der Volksmund erfand für sie deshalb eine eigenen Namen: nureochiba – nasse Blätter – werden die Rentner von heute genannt. Denn sie bleiben den Frauen wie faule Blätter an der Schuhsohle kleben. Um sie abzuschütteln, steigt die Scheidungsrate älterer Frauen in Japan.

Bei der Scheidungsrate verhält es sich freilich wie in der Politik: Meßbare Veränderungen, die sich in Zahlen ausdrücken, kommen nur langsam voran. Noch immer weist Japan mit 1,5 Prozent eine vergleichsweise niedrige Scheidungsrate auf. Der Grund ist einfach: „In finanzieller Hinsicht ist die Scheidung für eine Mutter in Japan eine wahre Katastrophe“, sagt Michiko Ishihara, 40, die sich 1983 von ihrem Mann scheiden ließ und seither als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern lebt. Durchschnittlich verdienen alleinerziehende Mütter in Japan nur ein Drittel dessen, was normale Familien verdienen. Das Rentensystem benachteiligt alleinerziehende Mütter, indem es ihnen geringere Summen als verheirateten Hausfrauen zur Verfügung stellt.

Trotz alledem bleibt Ishihara optimistisch. Im letzten Jahr organisierte sie ein „Forum der alleinerziehenden Mütter“, das seither 300 Frauen als Mitglieder zählt. Mit ihrem Buch „Prost auf die alleinerziehenden Mütter!“ hat die Gruppe bereits große Resonanz in der Öffentlichkeit gefunden. In diesem Frühling kam dann der erste große politische Erfolg: Zumindest auf Gemeindeebene wurde die Unterscheidung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern abgeschafft.

Eines der Reizthemen für die Frauenbewegung in anderen Länder hat es in Japan nie gegeben: die Abtreibungsdebatte. Abtreibung ist in Japan zwar gesetzlich verboten, und Frauen sollen dafür bestraft werden. In der Praxis aber erlaubt die soziale Indikation in aller Regel eine Abtreibung ohne Schwierigkeiten für die betroffenen Frauen. „Da es in der Praxis keine Probleme gibt, fand eine breite Diskussion nie statt“, erklärt Yukako Ohashi, 35, die einer der wenigen japanischen Frauengruppen angehört, die sich mit dem Abtreibungsthema beschäftigt.

Yukako Ohashi ist eine typische Vertreterin der japanischen Frauenbewegung. Eines aber hat sie auf den internationalen Konferenzen immer irritert: Viele Amerikanerinnen und Europäerinnen betörten die Japanerinnen mit Fragen wie: „Warum habt ihr immer noch keine Antibabypille, ihr Armen! Wollt ihr nicht dafür kämpfen?“ Ohashi schüttelt den Kopf. In Japan wird üblicherweise das Kondom verwendet. Die Pille ist als Verhütungsmittel nicht anerkannt. 1992 gab es zwar Überlegungen, eine verträglichere Pille mit niedrigeren Werten einzuführen, doch sie konnten sich wegen der möglichen negativen Auswirkungen auf die Aids-Prävention nicht durchsetzen. All das aber scheint die japanische Frauenbewegung nur wenig zu stören.

Die Auffassung, daß es zur Befreiung der Frauen nicht erst der Pille bedarf, teilen viele japanische Feministinnen. Überhaupt geht der ehemals große Einfluß des Westens auf die japanische Frauenbewegung zurück. Die aktivsten japanischen Frauengruppen beschäftigen sich heute mit der Lage der Frauen im übrigen Asien. Das hat auch damit zu tun, daß viele Filipinas oder Thailänderinnen als „Entertainer“ nach Japan einreisen, wo sie von den Gangstern der Yakuza zur Prostitution gezwungen werden. Ebenso wichtig erscheint die Solidaritätsarbeit mit den Prostitutionsopfern der japanischen Armeen im Zweiten Weltkrieg.

Die Kehrseite der Orientierung an den asiatischen Staaten ist den meisten japanischen Feministinnen freilich bewußt: „Wir dürfen dabei nicht auf eine asiatische Definition der Frauenrechte zusteuern, wie sie die autoritären Regime in Singapur oder Peking suchen“, warnt eine Tokioter Rechtsanwältin.

Trotzden sind 5.000 Japanerinnen nach Peking gefahren – zum Erstaunen ihrer Männer. Während die Ehefrauen weg sind, müssen sie nämlich den Haushalt erledigen – ein Thema, über das die Medien in Japan in diesen Tagen ausführlich berichten, und zwar nicht zum Schaden der Frauen. Denn bisher betätigen sich japanische Ehemänner pro Tag gerade 27 Minuten für den Haushalt, während berufstätige Frauen mit der Hausarbeit durchschnittlich 4 Stunden und 15 Minuten verbringen.