Von Raumanzügen eskortiert

Für einen Ereignisbericht zur Filmbiennale wäre bestenfalls der Kollege von „Leben/Essen/Trinken“ zuständig gewesen: Der Goldene Löwe von Venedig ging an den vietnamesischen Beitrag „Cyclo“. Warum bloß?  ■ Von Mariam Niroumand

Hätte man die Filmfestspiele von Venedig mit dem Hubschrauber überflogen, wäre ihre komplizierte Lage sofort augenfällig geworden. An allen möglichen Ecken und Enden wurde versucht, Ereignisse zu erzeugen; Schotten kamen herbeigeritten, um die Premiere des Mel-Gibson-Vehikels „Braveheart“ mit einem Tusch zu versehen; Fernsehstationen kidnappten die paar Prominenten, die statt nach Deauville nach Venedig gegangen waren (andere wieder waren zwar da, wurden aber nicht erkannt, wie Götz George); ein Empfangskomitee in Raumanzügen eskortierte Tom Hanks zur Pressekonferenz von „Apollo 13“. Derweilen hörte man es in den Pressevorführungen schnarchen, trampeln, sah leere Säle, und zum Ende war die Gereiztheit so groß, daß es zu regelrechten Handgreiflichkeiten mit den Einlassern kam, die ihre eigenen Vorstellungen vom Umgang mit Kritikern haben.

Diese hätten sich gewiß recht harmonisch zu denen der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages oder denen von Bernardo Bertolucci gefügt, die beide auf ihre mehr oder weniger elegante Weise Respekt gegenüber dem Alterswerk, weihevolle Andacht oder mindestens Solidarität mit dem engagierten Künstler fordern, übrigens auf den jeweils exponiertesten Plätzen der gescholtenen Medien (so der Aufmacher des letzten Zeit-Feuilletons und die Seite 1 der Repubblica vom vergangenen Mittwoch).

Warum waren wir da? Für den Ereignisbericht könnte der Kollege von „Leben/Essen/Trinken“ oder vielleicht besser von „Aufgespießt“ übernehmen, für die Weihe hat Venedig schockweise Priester herumzustehen, für die Solidarität mit gestrauchelten Künstlern könnte man vielleicht wirklich einmal den Deutschen Bundestag bemühen, denn darauf lief der Ruf nach Regeln doch wohl hinaus; warum waren wir da?

Die Jury der diesjährigen Mostra hat irgendwie ähnlich empfunden. Abbas Kiarostami, Margarethe von Trotta, Jorge Semprún und andere haben sämtlich Filme ausgezeichnet, die den Wunsch nach verläßlichen Regeln, nach Ereignis statt kritisierbarer Produktion, nach Kunsthandwerk mit Instant-Patina aufs üppigste bedienen.

So ging der Goldene Löwe, Venedigs höchste Auszeichnung, an „Cyclo“, den vietnamesischen Wettbewerbsbeitrag von Tran Anh Hung, dessen erster Film, „Der Duft der grünen Papaya“, hier schon einigen Anklang fand. Hatte es sich dabei noch im wesentlichen um gauguinhafte, Reisebüro-taugliche Erotik-Folklore gehandelt, bei der zarte Schönheiten auf bambusumflorte Jünglinge zuschwebten, entströmt „Cyclo“ eher der Geruch verschwitzten Strebertums. Der 1962 geborene Tran Anh Hung, der einige Jahre auf der École Nationale Louis Lumière zubrachte, hat versucht, der Papaya einige der im Westen beliebten Ingredienzien des asiatischen Jugendkinos beizumengen: Neongeflacker, angestochene Halsschlagadern, SM-Discos, eiskalte Schlachthöfe mit aufgeschlitzten Schweinebäuchen, die dann zu gegebener Zeit mit Heroinpäckchen ausgestopft werden, und mit Türkisfarbe bestrichene Körper, aus deren Mund ein Fischlein zappelt.

Neben diesen kunstgewerblich wirkenden Genre-Elementen soll erkennbar bleiben, daß es sich um ein armes Land handelt, und deshalb starrt einen der Held mit seinen denkbar traurigen Rikschafahreraugen an (so schaut er auch im wirklichen Leben drein, ich weiß es, er wohnte in meinem Hotel). Man stiehlt ihm die Rikscha, macht seine Schwester zur Prostituierten, tritt ihn in den Staub, schlägt ihn mit Polizeiknüppeln und zwingt ihn in die Welt des Verbrechens, in der einer wie er sich letztlich nur noch mit Türkisfarbe bestreichen kann – wobei natürlich anschließend noch ein Fischlein aus dem Mund zappeln muß (aber nicht der Rikschafahrer ist pervers, sondern die Gesellschaft, die ihn solchermaßen frißt).

Der Trend zum „Ereignis“ machte sich auch in den mannigfachen Naturkatastrophen bemerkbar, mit denen dieses Festival reich gesegnet war. Eine Feuersbrunst verschlingt den Schwachsinnigen aus „Cyclo“, eine Sonnenfinsternis begleitet die Aufdeckung des Kindesmißbrauchs in „Dolores Clairborne“, sintflutartiger Regen schlägt auf die guten und die bösen Iren nieder in „Nothing Personal“, und als die Dollars in „Musul'manin“ auf ein russisches Dorf herabsegeln, weiß man, daß dieses Land nicht mehr zu retten ist. Nicht, daß gegen eine handfeste Kinokatastrophe etwas einzuwenden wäre – nichts ist fataler als die langweilige Zelebrierung des Nichtereignisses bei Antonioni (damals wie heute). Nur hatte man in Venedig den Eindruck, daß keine Erfahrung mehr mit dem Ereignis verbunden ist, so unverbunden steht es neben dem Rest des Films; daß es sich also nur um eine Strategie des Kinos zum Einsatz der Special-Effects-Maschine handelt, die das Fernsehen in den Orkus blasen soll, in dem solche Riesengewitter eben einfach nach nüscht aussehen.

Der Spezialpreis der Jury ging zu gleichen Teilen an Giuseppe Tornatore für seinen „L'uomo delle stelle“ und den Portugiesen Joao César Monteiro für „A comédia de Deus“. „L'uomo delle stelle“ erzählt offiziell die Geschichte eines „Talentsuchers“, der das Sizilien der 50er Jahre nach kinotauglichen Gesichtern abgrast – dabei entsteht regelmäßig eine beichteähnliche Situation. Seit „Nuovo cinema paradiso“ weiß man, daß Tornatore das Kino für den einzig legitimen Erben der Kirche hält, und damit mag er ja womöglich sogar recht haben. Nur ist eine dermaßen weihevoll pittoreske Heiligkeit daraus geworden, die dem Kino eben womöglich auch nicht so guttut (dafür aber schraubt er sich gleich rein ins Alterswerk; Herr Bertolucci, übernehmen Sie).

Der andere, der Portugiese, läßt seinen Protagonisten nicht so sehr Talente als vielmehr weibliche Schamhaare suchen, die er, ein ältlicher Eisdielenbesitzer, in ein Buch einklebt, welches er „Buch der Gedanken“ nennt. Solche Filme werden im allgemeinen mit Prädikaten wie „ruhige Bilder von hintersinniger Selbstironie“ bedacht; man könnte auch Langeweile oder Hörspiel dazu sagen. Strafverschärfend hinzu kommt, daß er auf die dämlichsten Ressentiments („In allen Büchern, und seien sie noch so klug, steht ja doch nur immer das eine.“) aufbaut, und das noch mit so einem häßlichen alten Kauz.

Tant pis. Erfreulich zu vermelden ist immerhin, daß zumindest die beiden Darstellerpreise an die einzigen Wettbewerbsfilme gingen, die diesen Namen verdienten: An Isabelle Huppert und Sandrine Bonnaire für ihre mörderischen Rollen als minirockige Postangestellte und Hausmädchen in Claude Chabrols Verfilmung eines Romans von Ruth Rendell, „La cérémonie“. Zum anderen an Götz George für seine Tour de force als Serial Killer Haarmann in Romuald Karmakars „Der Totmacher“. Keiner von beiden braucht die Hommage an den Künstler, die Andacht vor dem Kino als solchem oder irgendwelche wirren Vorstellungen von Solidarität, die uns vor den Amerikanern schützen könnte. Beiden wohnt eine gewisse Schärfe inne, mit Strenge und Konsequenz wird eine hieb- und stichfeste Idee durchgezogen, die einen den Atem anhalten und zugleich spüren läßt, daß eine ungeheure Lust am Spiel im Spiel war. Wegen solcher Filme waren wir da.