Der serbische Präsident Slobodan Milošević will den Krieg auf dem Balkan beenden. Doch die nationalistischen Geister, die er einst rief, wird er nicht so schnell wieder los. Weder die Anhänger eines „Großserbien“ noch die Verteidiger Jugoslawiens verzeihen ihm den Verrat ihrer Ideen Von Karl Gersuny

Der Frieden liegt in sehr weiter Ferne

Wie wird er vor sein Volk treten? Wird er sagen, Landsleute, ich habe mich geirrt, den Traum von einem Großserbischen Reich können wir vergessen? Oder wird er auf eine neue Balkanordnung unter serbischer Vorherrschaft pochen? Der Mann, der heute noch schweigt, ist für jede Überraschung gut. Slobodan Milošević, Präsident Serbiens und geistiger Brandstifter des Balkankrieges, läßt sich Zeit mit seiner Entscheidung, viel Zeit. Schon sind sechs Wochen vergangen, seitdem die kroatische Armee in einer Blitzoffensive die sogenannte „Republik Krajina“ von den serbischen Aufständischen zurückeroberte und dabei an die 150.000 Serben über die Flüsse Save und Drina ins „Mutterland“ verjagte. Es war der größte Exodus seit Ausbruch des jugoslawischen Erbfolgekrieges 1991, und doch kam Milošević bisher kein Wort des Bedauerns über das Schicksal seiner Landsleute in Kroatien über die Lippen.

Mehr noch: Der serbische Präsident nimmt es scheinbar gelassen hin, daß der Mythos von der Unbesiegbarkeit der serbischen Armee mehr und mehr verblaßt und Nato- Kampfjets die Stellungen seiner bosnischen Statthalter in Schutt und Asche legen. Die Serben verstehen Milošević nicht mehr. In ihren Ohren schwingen noch immer die geflügelten Worte des selbsternannten „Retters des Serbentums“, als dieser in den historischen Jahren des osteuropäischen Umbruchs zwischen 1987 und 1989 das größte Volk der jugoslawischen Vielvölkerföderation auf einen Kampf gegen die anderen Nationalitäten im Staatenbund einschwor. „Niemand hat das Recht, uns zu schlagen – wir schlagen zurück!“ hatte Milošević damals kundgetan. „Wieder einmal in unserer Geschichte stehen wir mitten in einem Überlebenskampf und vor unbekannten Kämpfen, die zwar noch ohne Waffengewalt ausgetragen werden können, doch von denen keiner weiß, ob sie blutig enden werden.“

Zu Beginn seiner steilen Politkarriere Anfang der achtziger Jahre sah sich Milošević als Erneuerer der jugoslawischen Staatsidee – mit proserbischer Ausrichtung. Zuweilen glaubte er sogar, ein zweiter Tito stecke in ihm, er sei ein Führer aller Südslawen (übersetzt: Jugoslawen). Deshalb versuchte er anfangs, wo immer er konnte, sein Vorbild Josip Broz Tito zu imitieren, jenen kommunistischen Staatsgründer, der in den vierziger Jahren im Kampf gegen den deutschen und italienischen Faschismus die Südslawen zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmiedet hatte. Und selbst noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Slowenen im Norden, die Kroaten, Bosnier und Serben im Zentrum, die Montenegriner und Makedonier im Süden von der südslawischen Staatsidee geradezu begeistert – nicht zuletzt dank Titos Ausstrahlung. Bis ins hohe Alter gelang es dem roten Marschall, wenngleich mit eiserner Hand, stets zwischen den divergierenden Nationalinteressen zu vermitteln und den meisten Bürgern das Gefühl zu geben, daß sie innerhalb des bunten Völkergemisches weder aufgrund ihrer Herkunft noch ihrer Religion in irgendeiner Weise benachteiligt werden.

Seinen Erfolg verdankte Genosse Broz jedoch vor allem dem historischen Trauma der Balkanvölker, das er geschickt durchbrach: Erstmals in ihrer Geschichte konnten vor allem Slowenen und Makedonier, in geringerem Umfang auch Kroaten und Bosnier, unter der sozialistischen Herrschaft nationale Rechte in Anspruch nehmen, die ihnen über Jahrhunderte verenthalten worden waren. So hatten Wien und Budapest den Slowenen und Kroaten im Vielvölkerkerker der k.u.k. Monarchie bis 1916 nur eine gewisse Kulturhoheit zugestanden, gab es unter der osmanischen Fremdherrschaft für Serben und Makedonier keine Möglichkeiten lokaler Autonomie. Und auch der erste jugoslawische Staat – unter dem Könighaus Karadjordjevo – ignorierte die nationalen Wünsche der Volksgruppen. Als sich die Monarchie 1921 in eine Königsdiktatur wandelte, wurden alle nationalen Bestrebungen im Keim erstickt.

Das jugoslawische Modell funktionierte aber auch deshalb, weil die verschiedenen Völker der Ansicht waren, sich nur gemeinsam gegen eine Einverleibung in den sowjetischen Herrschaftsbereich schützen zu können. Gemeinsam wollte man die Blockfreiheit und auch die nationalen Rechte verteidigen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kehrten jene nationalistischen „Dämonen“ (Milošević) zurück, auf die auch die Belgrader Reformkommunisten nicht vorbereitet waren. Als habe es nie einen Konsens über die jugoslawische Staatsidee gegeben, erinnerte sich sechs Jahre später Ivan Stambolić, „wurde die innere Ordnung von innen heraus zerschlagen“.

Am vergangenen Dienstag präsentierte der langjährige KP-Chef Serbiens in Belgrad seine politischen Erinnerungen unter dem bezeichnenden Titel „Aussichtslosigkeit“. Darin versucht jener Politiker, der den Jungfunktionär Milošević in den siebziger Jahren als „Hoffnungsträger“ entdeckte und als „Reformer“ bis in die höchsten Schaltstellen der Macht brachte, die Ursachen für diesen Balkankrieg zu ergründen. „Ich habe mich geirrt“, gesteht Stambolić, „daß Milošević Jugoslawiens Wirtschaft reformieren und – analog zu Gorbatschow in Moskau – die Gesellschaft von sozialistischem Ballast befreien wollte. Doch damals habe ich daran geglaubt.“

Damals, das war 1980, wenige Monate nach Titos Tod. Die Integrationsfigur aller Jugoslawen hatte keinen Nachfolger hinterlassen, der imstande gewesen wäre, dessen Erbe anzutreten. Stambolić bemerkt dazu: Eine hektische Suche habe begonnen, doch innerhalb des Bundes der Kommunisten gab es keine Einigkeit mehr über eine neue gemeinsame Linie. Als Milošević von den serbischen Genossen als Parteisekretär ins Spiel gebracht wurde, hätten vor allem Slowenen und Kroaten heftig protestiert. Die verdächtigten den Belgrader Politiker „zentralistischer Tendenzen“ und widersetzten sich allen Reformvorschlägen, die fortan aus Belgrad kamen.

In der Tat versuchte Milošević damals die Bundesorgane gegenüber den Republikparlamenten zu stärken und mit einer zentralistischen Wirtschaftspolitik die ökonomische Krise in den Griff zu bekommen. Sein Programm zur Umgestaltung fand damals die Zustimmung der westlichen Regierungen und des Internationalen Währungsfonds. Westeuropa hofierte den Parteifunktionär als Krisenmanager. Doch die Wirtschaftsreformen scheiterten, die Altlasten – wie die Staatsverschuldung – waren zu groß, und so verabschiedete sich Milošević „aus Enttäuschung“ von der jugoslawischen Staatsidee.

Wer ihn auf die Idee brachte, fortan von einem Großserbien zu träumen, anstatt den „Weg Titos fortzusetzen“, darüber wird in Serbien seit langem wild spekuliert. Stambolić etwa behauptet, Milošević habe bis Ende der achtziger Jahre keine Kontakte zu großserbischen Emigrantenkreisen oder der neuerwachten nationalistischen Opposition gepflegt. Er selbst sei überrascht gewesen, als Milošević plötzlich immer nationalistischere Töne anschlug und seine zweigleisige Taktik immer deutlicher wurde: Zum einen gab er sich als Reformer Jugoslawiens aus, zum anderen als Großserbe.

Schließlich gelang es Milošević 1987, seinen politischen Ziehvater Stambolić und die alte titotreue Garde aus den Sesseln der Macht zu verdrängen, die Bundesinstitutionen in Belgrad von den alten Kadern zu säubern und sich zum alleinigen Führer Serbiens hochzuschwingen. Seine Parolen hießen fortan „Jugoslawien ist Serboslawien“ und „Ohne ein starkes Serbien gibt es kein starkes Jugoslawien“. Wie trunken folgte die überwiegende Mehrheit der Serben dem nationalkommunistischen Propheten, der verkündete, Serbien sei überall dort, wo Serben wohnten.

„Der Wahnsinn nahm seinen Lauf“, konstatiert der Serbe Stambolić. „Während sich die anderen Völker dem schleichenden Hegemonialstreben Miloševićs zu widersetzen suchten, sammelten sich die Großserben zur Schlacht.“ Plötzlich orteten die Kriegstrommler in Belgrad eine „Weltverschwörung“ gegen das unverstandene Serbenvolk. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands sei der Balkan zum Schauplatz des germanisch-katholisch-islamischen Machtstrebens geworden. So wie die faschistischen Besatzer Jugoslawiens 1941 über ihre Beute herfielen, so würden die gleichen Kräfte jetzt Jugoslawien in Stücke reißen, um die Serben wieder einmal um das ihnen zustehende Reich zu bringen.

Milošević wußte, was er tat. Vor allem bei den serbischen Minderheiten in Kroatien und Bosnien fand der kriegslüsterne Serbenführer Gefolgsleute, die seine politischen Ziele für bare Münze nahmen und sich für keine Drecksarbeit zu schade waren, um das Endziel eines Großserbien zu verwirklichen. Die Namen der bosnisch- serbischen Führer Radovan Karadžić und Ratko Mladić stehen für eine ganze Palette von verblendeten Kriegstreibern, die mittlerweile selbst nicht mehr davor zurückschrecken, der internationalen Staatengemeinschaft den Krieg zu erklären.

Vor allem der geltungssüchtige Milošević-Zögling Karadžić entwickelte eigene Ambitionen und übertraf seinen Belgrader Lehrmeister bald an Tücke und ungestümer Rhetorik. Er predigte zusammen mit Mladić den „totalen Krieg“ und beschwor seine Männer: „Serbiens Größe mißt sich an dem Haß seiner Feinde.“ Für alle Greuel finden die beiden Balkankrieger eine ideologische Rechtfertigung. Ethnische Säuberungen, Internierungslager, Geiselhaft von UNO-Soldaten, Granaten auf Märkte und Spitäler, die bedenkenlose Vernichtung nichtserbischen, also offenkundig „unwerten“ Lebens gehören zu ihrem „Repertoire“.

Dieser Irrsinn geht jedoch auch Milošević zuweit. Im kriegsunversehrten Belgrad denkt der Serbenführer schon seit über einem Jahr darüber nach, wie er die nationalistischen Geister, die er einmal rief, nun wieder loswerden könnte. Der Präsident will zurück auf die internationale Politbühne, will aus der selbstverschuldeten Isolation ausbrechen.

Doch die bisherigen Vertrauten und Förderer wollen diese erneute Wende nicht einfach mitmachen. Die jugophilen Kräfte im Armee- und Staatsapparat verzeihen Milošević nicht, daß er die Neugestaltung Jugoslawiens für einen großserbischen Traum opferte, von dem nichts zu sehen ist und der sich wohl nicht mehr verwirklichen lassen wird. Die Großserben wiederum werfen ihm Verrat vor beim angeblich gerechten Kampf für einen „dauerhaften Lebensraum des geknechteten Serbentums“ (Karadžić). Der Jongleur Milošević sitzt in der Klemme. Auf keine der beiden Fraktionen kann er sich bedingungslos verlassen. Auch scheiterte bisher seine Taktik, den Großserben Karadžić durch die Jugo-Fraktion zu entmachten und General Mladić wieder in die Belgrader Armee einzubinden. Der interne Machtkampf zwischen jenen, die den Krieg mit allen Mitteln weiterführen wollen, und jenen, die sich geschlagen geben, ist noch unentschieden. Da ändern auch Nato-Bombardements auf serbische Stellungen um Sarajevo nichts.

Mit einer trotzigen Jetzt-erst- recht-Reaktion will die Karadžić- Gefolgschaft so lange durchhalten, bis die Nato auf russischen Druck hin die Luftschläge wieder aussetzt, während Milošević nach vier langen Kriegsjahren zu keinen Abenteuern mehr bereit zu sein scheint. Dessen Devise laute, so glaubt Stambolić zu wissen: Sichern wir die bisherige Beute durch internationale Verträge, so gut wir können, ab, der Verlust der Krajina war uns eine Mahnung.

Doch solange der Belgrader Machtapparat sich nicht für oder auch gegen Milošević entschieden habe, werde der Krieg weitergehen, resümiert Stambolić, da habe auch der Westen keinen Einfluß: „Die Chance auf einen baldigen Frieden ist derzeit aussichtslos.“