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Kritik, Barbarei etc.Mythen in Tüten

■ Antidemokratisches von der Bundestagsvizepräsidentin

Preisfrage: Worum geht es hier? „Das Schema ist seit der Antike immer gleich: Auf den Rängen sitzt die feine Gesellschaft, die sich beim Anblick des in der Mitte der Arena stattfindenden tödlichen Spiels köstlich amüsiert und sich ihrer Überlegenheit vergewissert ... Nach 1989 ist das Bedürfnis nach innergesellschaftlichen Entladungen gewachsen.“ Skinheads, meinen Sie? Ach was! Na, Sie raten's ja doch nicht: Von Literaturkritik ist in diesem raumgreifenden Besinnungsaufsatz aus der Zeit unter dem Titel „Ende der Unschuld“ (8. 9. 1995) die Rede.

Antje Vollmer wirft darin den Kritikern des neuen Romans von Günter Grass „Kampagnenjournalismus“ mit dem Ziel der „blindwütigen Zerstörung von Autorität und Kreativität“ vor. Es wäre schon interessant genug, dem Stellenwert dieser Kombination im Vollmerschen Denken nachzuspüren: Braucht man Autorität, um kreativ zu werden? Und gebührt dem Kreativen nicht kraft seiner Kreativität auch Autorität – weil wir doch „gerade in Zeiten des Umbruchs die Dichter“ brauchen? Unsere Sorge soll das nicht sein. Die Kritik ist eine antiautoritäre Institution, die von der Differenz, von der abweichenden Meinung lebt. Das ist erst in zweiter Linie eine Frage persönlicher Unangepaßtheit. Es mögen hier wie überall Konformisten am Werk sein – das Arbeitsprinzip der Kritik ist die Distinktion. Andere Meinungen werden mit Aufmerksamkeit belohnt. Der Furor mancher Kritik an Grass mag daher rühren, daß sein Roman so wenig Chancen dazu bot.

Es scheint kaum jemanden zu stören, wenn eine der höchsten politischen Repräsentantinnen dieses Landes eine Serie von Verrissen „reale Gewalt“ nennt und den Kritikern vorhält, „sie reflektieren nicht, wie weit sie die in jeder Gesellschaft lauernde Aggressivität erst ermutigen, anheizen, sie halten sich notorisch fern von der Erkenntnis, was sie zu ihrer Eindämmung und Zivilisierung beitragen können.“ Der „Fall Grass“ als Zivilisationsbruch, als „Barbarei“ – das mag den meisten denn doch zu albern erschienen sein. Aber man sollte sich Antje Vollmers Text genauer anschauen. Es ist doch eine ernste Sache, wenn die stellvertretende Parlamentspräsidentin zur Freiheit der Kritik ein so gebrochenes Verhältnis hat. Was heute ansteht, schreibt Vollmer, sei die Entwicklung „demokratischer Regeln“, um die „Kultur des öffentlichen Raumes“ zu „humanisieren“. Überflüssig zu fragen, wer denn das grundhumane und zivilisationsfördernde Regelwerk für die Literaturkritik beschließen und verabschieden wird: natürlich der Deutsche Bundestag unter Vorsitz seiner stellvertretenden Vorsitzenden.

Aber im Ernst: Eine Demokratie, die nichts davon wüßte, daß in bestimmten Arenen demokratische Regeln nicht gelten, verdiente ihren Namen nicht. Jörg Lau

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