Spektakuläres spektakulär inszenieren

■ Der Hungerstreik als Mittel zur Artikulation und Durchsetzung politischer Ziele hat sich in jüngster Zeit auffällig gehäuft. Ein Gespräch mit dem Ethnologen und Soziologen Werner Schiffauer über die K

Der Hungerstreik war schon immer ein Mittel zur Artikulation und Durchsetzung politischer Ziele. Ein letztes Mittel allerdings, weil es – beim Hungerstreik der RAF oder dem der Gefangenen von Long Kesh – im Ernstfall den Tod in Kauf nimmt. In jüngster Zeit häufte sich diese Form des Protests auffällig. So hungerten beispielsweise Belegschaften von Ostbetrieben – wie die Bischofferoder Kali-Kumpel vor zwei Jahren – gegen ihre drohende Abwicklung; Gregor Gysi hungerte gegen einen Steuerbescheid an die PDS; die Belegschaft eines Provinzkrankenhauses hungerte für mehr Geld; ein Verlagslektor hungerte gegen die Mißachtung seiner Publikationen durch das deutsche Feuilleton; und die französische Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine hungerte gegen die Bosnien-Politik ihres Landes.

taz: Seit einiger Zeit ist der Hungerstreik eine verbreitete Form des politischen Protests geworden. Man könnte fast von einer Konjunktur sprechen. Wie erklären Sie sich das?

Werner Schiffauer: Zum einen scheint es sich um eine neue Protestform zu handeln, um das Phänomen, daß die Beteiligten offenbar das Gefühl haben, daß die alten Protest- und Demonstrationsformen, die gute alte Demonstration, es nicht mehr bringen. Diese Hungerstreiks gehören deshalb zu einer ganzen Reihe neuer Protestformen, die versuchen, spektakuläre Ereignisse auch spektakulär zu inszenieren, um Medienöffentlichkeit herzustellen.

Deshalb stehen sie eher in Zusammenhang mit politischen Meinungsäußerungen wie den Lichterketten oder spektakulären Greenpeace-Aktionen als mit dem klassischen Hungerstreik – der wird eher zitiert. Die Aktionen vermitteln einem nicht den Eindruck, daß es hier um dieses Existentielle geht, das beim klassischen Hungerstreik noch eine Rolle gespielt hat.

Sie meinen, wirklich sein Leben zu riskieren?

Genau. Man glaubt doch nicht, daß Gregor Gysi wirklich ernsthaft bereit ist, wegen eines Steuerbescheides zu sterben. Das nimmt man ihm einfach nicht ab, ich jedenfalls nicht. Genausowenig wie wohl die Belegschaft eines Krankenhauses in den Tod ginge, falls es tatsächlich geschlossen würde. Insofern unterscheidet sich diese neue Form des Hungerstreiks ja doch drastisch von der Form des Hungerstreiks, wie sie etwa die RAF praktiziert hat.

Nun sind Lichterketten eine vergleichsweise risikolose Form, Aufmerksamkeit zu bekommen. Was für eine Körperpolitik steht aber eigentlich hinter der Bereitschaft, zur Artikulation und Durchsetzung politischer Ziele den eigenen Körper einzusetzen, wenn auch nicht „bis zum Tode“?

Ich habe den Eindruck, dahinter steht eine ganz bestimmte Denkfigur, die eine lange Tradition hat: Nämlich durch das eigene Leiden die Welt ins Unrecht zu setzen. Diese Denkfigur ist beispielsweise bei Sekten verbreitet, denken Sie nur an die klassischen protestantischen Sekten wie die Mennoniten oder die Amish People. All diese Sekten ziehen sich auf Gewaltlosigkeit zurück, haben aber gleichzeitig einen starken Märtyrerkult und eine Verfolgungsgeschichte. Sie verbinden das Bekenntnis zur Gerechtigkeit ihres Ansinnens mit dem Leiden des Verfolgten. Das Leiden wird sozusagen zum Beleg für die Richtigkeit des Ansinnens.

Dieses Phänomen hat wahrscheinlich eine tiefe anthropologische Verankerung. Sartre hat es unter dem Begriff der „passiven Aktivität“ in seiner Flaubert-Biographie beschrieben. Und wir kennen diese Körperhaltung etwa von dem Kind, das seine Handschuhe nicht anzieht und auf diese Weise gegen die Eltern protestiert. Der Gestus „Ihr seid selber schuld, wenn es mich friert“ setzt nämlich die Welt aus der Passivität heraus ins Unrecht. Der Passive tut ja nichts und kann sich deshalb nicht schuldig machen. Er braucht die Verantwortung für sein Tun nicht zu übernehmen und schiebt den Schwarzen Peter den anderen zu, die so gezwungen werden zu reagieren. So wird Protest in Form des eigenen Leidens ausgeübt.

In Franz Kafkas Erzählung „Der Hungerkünstler“ setzt sich ein Mann in einen Käfig und hungert öffentlich zur Unterhaltung und Belustigung des Publikums. Die englische Literaturwissenschaftlerin Maud Ellmann interpretiert das so, daß es hier nicht ums Hungern geht, sondern um die Versicherung der eigenen Existenz im Prozeß des Verschwindens. Und schlußfolgert, daß die öffentliche Inszenierung des Hungerns auf zweierlei zielt: die Beschämung des Adressaten und das Mitleid der Sympathisanten. Gelingt das den jetzigen Hungerstreiks?

Natürlich ist diese Form des Hungerns eine Demonstration, richtet sich an die Öffentlichkeit, an die anderen. Aber Kafkas „Hungerkünstler“ verbindet sein Hungern ja nicht mit einer Anklage – zumindest ist sie ziemlich diffus –, auf jeden Fall nicht mit einer konkreten politischen Forderung. Wenn sich diese Verknüpfung nun derzeit so häuft, muß man sich allerdings fragen, warum ausgerechnet diese Form eine solche Konjunktur hat. Und das scheint mir mit der allgemeinen Krise zusammenzuhängen, in der sich das kritische Denken im Augenblick befindet: insofern als ihm die Utopie abhanden gekommen ist, die positive Vorstellung eines Anderen, worauf hinzuarbeiten ist. Mit dem Zerfall des Sozialismus scheinen uns auch die Ideen abhanden gekommen zu sein, wie man die Gesellschaft gründlich so reorganisieren kann, daß man das Leiden beenden kann. An einer solchen Utopie hängt aber einiges: das Formulieren von Zielen und Zwischenzielen, von Strategien und Etappen. Eine radikale Gesellschaftskritik, die keine solche Utopie mehr hat, empfindet das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt natürlich nicht weniger stark. Vielleicht sogar stärker, weil es nicht mehr relativiert wird, weil man jetzt nicht mehr sagen kann: „Du leidest nur an einem Nebenwiderspruch“. Das Leiden steht vielmehr einfach da – und die Formen des Protests, die jetzt gewählt werden, scheinen mir genau das auszudrücken. Es ist eben nicht die aktive Forderung nach einem anderen Gesellschaftszustand, sondern es sind punktuelle Forderungen. Etwas wird punktuell als Unrecht thematisiert, und dieses punktuell empfundene Unrecht wird dann durch das Leiden am eigenen Körper zum Ausdruck gebracht.

Würden Sie Motivlagen unterscheiden? Also ob man sozusagen „in eigener Sache“ hungert, wie die PDS, die Bischofferoder oder auch die KurdInnen, oder ob man sozusagen „stellvertretend“ und für ein formales Ziel hungert wie Ariane Mnouchkine?

Ich würde nicht wagen, da scharfe Grenzen zu ziehen. Denn die KurdInnen in Berlin hungern ja nicht nur in eigener Sache, sondern auch für ihre Landsleute in der Türkei. Es geht ja nicht darum, die persönlichen Lebensumstände zu verbessern; auch Gregor Gysi hungert nicht für sein Gehalt, sondern für die PDS. Die Frage der jeweiligen Betroffenheit ist also nicht so zu differenzieren, daß man sagen könnte, Gysi hungert für sich und Mnouchkine für andere. Da würde ich keinen Unterschied sehen.

Jenseits der unterschiedlichen Motivlagen und Anlässe geht es ja um Publizität, Medienöffentlichkeit. Ist der Hungerstreik dafür wirklich besser geeignet als andere Protestformen? Ist er wirksamer?

Offenbar ja. Besser als die gute alte Demo allemal, was sich ja auch in der Berichterstattung spiegelt. Ich sehe daran aber nichts Verächtliches. In der gegenwärtigen Zeit muß jeder Protest medienwirksam sein, wenn er Protest sein will. Das liegt ja in seiner Natur, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Aber mit den Appellen an die Öffentlichkeit war schon immer auch ein Selbstbezug verbunden. So war die Demonstration zwar immer ein nach außen gerichtetes, öffentlichkeitswirksames Ereignis. Aber eben auch ein Ritual zur Inszenierung der Gemeinsamkeiten. Durch die Demonstrationsteilnahme wurde man in die Gemeinschaft initiiert, man empfand die Gemeinsamkeit. Und durch die Teilnahme an diesem Ritual hat sich immer etwas am Bewußtsein, am Weltbild des einzelnen verändert. Das trifft auf die verschiedensten Protestformen zu, aber es war immer diese Mischung von Ritual und Medienereignis, das zählte und das auch notwendig war. Im Prinzip trifft das nun auch auf den Hungerstreik zu, nur daß in diesem Fall das Ritual der Geimeinsamkeit auf eine ziemlich kleine, elitäre Binnengruppe beschränkt ist. Vielleicht ist das ja das Problematische am Hungerstreik: daß eine weitere Solidarisierung so schwierig gemacht wird. Gerade wenn man die Ziele der Hungerstreikenden teilt, fühlt man ein gewisses Unbehagen in ihrer Nähe, wenn man sich den Aktionen nicht direkt anschließen will oder kann. Man wird beschämt, und es wird einem das Gefühl vermittelt, selber nicht genug für die gute Sache zu tun. Das Problematische am Hungerstreik sehe ich eher in diesem rituellen Aspekt als darin, Medienpräsenz herstellen zu wollen. Ohne Medienpräsenz kann man sich ja jede Form der Kundgebung schenken.

Wenn man sich an die Hungerstreiks der RAF erinnert und sich nun Ariane Mnouchkine umgeben von Journalisten und Sympathisanten im Park von Vincennes vorstellt: Ist das eigentlich das gleiche politische Mittel, das hier eingesetzt wird? Ist auch die Rezeption durch die Öffentlichkeit die gleiche?

Nein, das nicht. Aber ich würde in beiden Fällen eine Gemeinsamkeit sehen: die Lage nämlich, die diese „passive Aktivität“ hervorruft und die auf dem Gefühl basiert, die Umwelt nicht aktiv gestalten zu können. Dennoch macht es natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob das daran liegt, daß man im Gefängnis sitzt und das Hungern die einzige, existentielle Waffe ist, die man noch besitzt. Oder ob dieses Gefühl, in einem zentralen Punkt nichts mehr an der Welt verändern zu können, dadurch entsteht, daß einem die Utopie abhanden gekommen ist. In beiden Fällen liegt Hilflosigkeit vor, aber doch auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Und genau diese Unterschiedlichkeit gilt es zu sehen.

Deshalb ruft es ja auch einen anderen Grad von Empörung hervor, wenn die RAF-Gefangenen gehungert haben und wenn jetzt Ariane Mnouchkine hungert. Das geht einem einfach nicht so nahe und ist deshalb nicht so wirksam. Aber ich würde dem dennoch keinen moralischen Dreh geben oder von Geschmacklosigkeit sprechen wollen. Ich würde es, wie gesagt, eher in diese ganzen diversen Protestformen einreihen und es nicht so ernst nehmen wie den klassischen Hungerstreik. Und es vielleicht auch nicht so ernst nehmen, wie es die Beteiligten selber gern möchten. Aber ich empfinde es umgekehrt als durchaus legitimes Ansinnen, neue Demonstrationsformen und neue Formen der Inszenierung zu entwickeln.

Glauben Sie, daß das in der Öffentlichkeit genauso ankommt?

Wenn ich die taz so lese, scheint mir da eher ein Stirnrunzeln vorzuherrschen. Interview: Barbara Häusler