„Ein Wunder ist geschehen“

Erstmals seit 50 Jahren wird ein jüdischer Schulneubau in Betrieb genommen. Bei der Eröffnung viele Prominente, viele Bodyguards – und die Nöte von Esther, Ruth und Katharina  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Esther, Ruth und Katharina könnten sterben vor Aufregung. Die ganze letzte Nacht haben sie kaum geschlafen, schon kurz nach sechs, sagt Esthers Mutter, war ihre Tochter fidel. Dieser Donnerstag ist doppelt aufregend für die drei Drittklässlerinnen der Jüdischen Grundschule am westlichen Stadtrand Berlins: Unterrichtet wird heute nur ansatzweise. Und der Bundespräsident soll kommen. Heute wird die abenteuerlich architektonisch gestaltete Schule offiziell eingeweiht.

220 jüdische und nichtjüdische Kinder stehen im Schulhof Spalier, halten blaue und weiße Nelken in der Hand – und lassen sich gutmütig von Journalisten löchern. Dabei müssen sie immer mal wieder Vorurteile geraderücken. „Wann warst Du das letzte Mal in Israel?“ will eine Hörfunkreporterin von Katharina wissen. Die staunt nicht schlecht und antwortet keß: „Wieso Israel? Meine Eltern kommen aus Odessa, und ich bin in Berlin geboren.“ Ausnahmezustand vor der Ganztagsschule, die nach Heinz Galinski benannt ist: Dutzende von Leibwächtern, Polizisten und Sicherheitsbeamten checken die BesucherInnen flughafenreif bis zu dreimal. In ihren Reden werden Berlins wahlkämpfender und Regierender Bürgermeister Diepgen und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerzy Kanal, sich „glücklich zeigen“ über ein „Stück Normalität“, das die Schule impliziere.

Doch auch nach Abzug der hochkarätigen Prominenz bleibt die Schule ein Sonderfall: Videokameras, Sicherheitszaun, 24stündige Bewachung – normaler Alltag an der Heinz-Galinski-Schule.

Als Roman Herzog dann endlich kommt, die Nummer eins auf der 400 Namen umfassenden Gästeliste, erleben Esther, Ruth und Katharina die größte Pleite ihres Lebens. Ein Autogramm des Bundespräsidenten, das wär's, aber an ihn rankommen ist ihnen nicht vergönnt. Ein Kordon aus Bodyguards versperrt ihnen den Weg. Im Schneckentempo bahnt sich Herzog einen Pfad zur Schulaula, 220 Kinder kreischen, als stünden ihnen „Take That“ bevor. Esther, Ruth und Katharina brüllen sich die Seele aus dem Leib, aber ihre Nelken werden sie auch so nicht los. So wirft Ruth ihre blaue in Richtung Herzog; sie trifft das Staatsoberhaupt im Nacken. Der Mann lächelt, die drei Mädchen feixen. Die größte Aufmerksamkeit zieht an diesem Vormittag der prominenteste Nicht-Jude auf sich: Roman Herzog. Mindestens 20 FotografInnen bedrängen ihn selbst noch dann, als er endlich neben Diepgen und Kanal sitzt. Und es kann ihm einfach nicht recht sein, daß seine bloße Anwesenheit der Jüdischen Gemeinde die Show stiehlt. So hören Sie doch bitte auf, mich zu fotografieren, suggeriert seine säuerliche Mine, fotografieren Sie die Schule.

Für anderthalb Stunden wird die Schulaula zur kinderfreien Zone, die Erwachsenen bleiben unter sich. Und sie demonstrieren öffentlich zur Schau getragenen Optimismus. Tatsächlich hat dieser Tag, wie es Bundespräsident Herzog manuskriptfrei formuliert, etwas Ergreifendes: „Ein Wunder ist geschehen.“ Die Eröffnung der Jüdischen Grundschule müsse an ein Wunder grenzen, „wenn man bedenkt, was den Juden früher in unserem Land zugefügt wurde“. Zum allgemeinen Amüsement plaudert Herzog über ferne Kindheitstage: „Wissen Sie, früher bin ich nicht gerade gern in die Schule gegangen – aber in dieser hier könnte ich mich wohlfühlen.“

In der Heinz-Galinski-Schule, eine phänomenale Mischung aus nacktem Beton, viel hellem Holz und hochpoliertem Stahl, „soll täglich Toleranz praktiziert werden“. So umschrieb Jerzy Kanal den künftigen Schulalltag. Es ist außerdem die große Hoffnung der Gemeinde, daß diese Schule viele Absolventen dazu motiviert, die Laufbahn eines Rabbiners oder eines Kantors einzuschlagen. Auch Ignatz Bubis, der Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland, verknüpft eine ganz eigene Erwartung mit der Grunewalder Grundschule: „In einer Zeit fortschreitender Säkularisierung ist es wichtig, jungen Menschen religiöse Werte zu vermitteln. Das gilt auch für nichtjüdische Kinder.“

Kurz vorm Büffet spielen 20 Kinder der Klassen 4a und 4b Szenen aus dem Hochzeitsklamauk Anatevka. Die Erwachsenen sind ergriffen, die KlassenkameradInnen schleichen sich einfach rein in die Aula – und prusten, wenn sich jemand verspricht.

Esther, Ruth und Kathatrina fehlen. Sie hocken auf einem Stück Rasen und fachsimpeln über die beste Autogrammjägertaktik. Wenn Herzog die Schule verläßt, beschließen sie dann, wollen sie ihn „einfach anquatschen“.