Sanssouci
: Nachschlag

■ Die Berliner Festwochen dokumentierten erstmals umfassend das Werk des russischen Komponisten Arthur Lourie

Janus, der römische Gott des Torbogens, trägt ein doppeltes Antlitz: Mit einem Gesicht schaut er in die Zukunft, das andere Gesicht ist rückwärts gewandt. Von solch janusköpfiger Gestalt ist das Gesamtwerk des russischen Komponisten Arthur Lourié, der, 1892 im Zarenreich geboren, in den Jahren um die Oktoberrevolution als futuristischer Künstler auf der Schwelle zu einer neuen Ära stand. Während seine Jugendwerke noch von kühner Experimentierfreude sind, Zukunftsmusik, die von anderen Zeiten kündet, haben die nachrevolutionären Werke des 1922 nach Paris emigrierten Komponisten wieder Dur-Moll-tonale Bindungen.

Diese verquere musikalische Entwicklung wurde von den Festwochen erstmals umfassend dokumentiert – konsequent von hinten nach vorne. Bereits die 1926 entstandene „Suite pour quatuor à Cordes“, die den Auftakt des Lourié-Wochenendes bildete, ist das Werk eines Komponisten, den aller umstürzlerischer Mut verlassen hat. In unisono geführten Kantilenen und einer terzenseligen Einfachheit mag sich die heimwehkranke Sehnsucht des Emigranten nach einem Rußland äußern, an das wohl nur aus der Fremde mit solch verklärendem Blick erinnert werden kann.

Das Philharmonia Quartett, das sich aus Mitgliedern der Berliner Philharmoniker zusammensetzt, spielte diese Reminiszenz mit einer fotografischen Sachlichkeit, welche die gefährliche Nähe zum Kitsch elegant umging. Höhepunkt dieses ersten nachrevolutionären Abends war jedoch die Flötistin Kornelia Brandkamp. Wie auf ein langes Band gefädelt, erklangen Töne, deren Fortgang man atemlos verfolgte, während die Zeit im kleinen Saal der Philharmonie für lange Augenblicke vollends aufgehoben schien.

Wie anorganisch, sperrig, aber auch modern erschien dagegen das frühe Klavierwerk Louriés am zweiten Abend! Wilde Klangkleckse, zwölftönige Ballungen und kantige Formen brachen aus dem Konzertflügel hervor, der von dem Komponisten Steffen Schleiermacher abwechselnd traktiert und gestreichelt wurde. Vor einem kleinen Publikum (beide Lourié-Konzerte waren schlecht besucht) entluden sich wüste und hoffnungsfrohe Phantasmagorien von einer aus den Fugen geratenen Welt – Visionen, die Lourié selbst später nicht mehr ausgehalten und mit wohlklingenden Harmonien wieder geglättet hat.

Dennoch: Für eine am Fortschritt orientierte Musikwissenschaft mag nur das vorwärtsgewandte Gesicht des Janus Lourié von Bedeutung sein – für die späte Rehabilitation des Menschen und Komponisten war die Darstellung beider Seiten ein notwendiger Schritt. Christine Hohmeyer