Skurrile Passanten

■ Senkrechtstarter mit Finanzproblemen: Joachim Schlömers neue Choreographie „Hochland oder Der Nachhall der Steine“, eine Clangeschichte in Weimar

Viel böses Blut hatte es gegeben, als der 32 Jahre junge, vielgerühmte Choreograph Joachim Schlömer mit seiner Tanztruppe vom Ulmer Theater zu Beginn der Spielzeit 94/95 ans Deutsche Nationaltheater Weimar wechselte: ein Wessi in Weimar. Die seit 25 Jahren bestehende Ballettkompanie des Nationaltheaters wurde aufgelöst, denn der neue Chefchoreograph brachte seine eigenen Tänzer mit. Die Abwicklung des traditionellen Balletts, die Etablierung einer avancierten Tanzmoderne, nach der in Weimar niemand gefragt hatte – der überwiegende Teil der Einheimischen empfand das zunächst als härtesten westdeutschen Kulturimperialismus. Die Wellen der Wut schlugen hoch, und Klaus Pohl setzte im Spiegel mit einer ebenso klischeegesättigten wie ahnungslosen Reportage – in der zwar die entlassenen Ostler, nicht aber Schlömer oder der Intendant Günther Beelitz, ebenfalls ein Westler, zu Wort kamen – noch eins drauf.

Im Theater selbst scheinen die verhärteten Fronten nach einem Jahr weitgehend aufgelöst. Dennoch steht seit Ende August fest, daß Schlömers Ensemble Weimar Ende dieser Spielzeit verlassen wird: Der Starchoreograph wechselt mit seinen Tänzern nach Basel. Um seinen Dreijahresvertrag einzuhalten, wird sich Schlömer wahrscheinlich die Spielzeit 96/97 zwischen Basel und Weimar aufteilen. Ein rasanter Aufstieg, zweifellos: Innerhalb von wenigen Jahren wurde Schlömer vom unbekannten Nachwuchs-Nobody aus Ulm zu einem der gefragtesten deutschen Tanztheaterkünstler.

Schwer zu sagen, ob Schlömer ohne den anfänglichen Ärger länger geblieben wäre. Der Weggang sei „letztendlich eine künstlerische Entscheidung“, lautet der diplomatische Kommentar des Organisators und Pressesprechers Dirk Hesse. Die finanzielle Situation der Stadt Weimar ist, gelinde gesagt, desolat. Schauspiel, Oper und das Tanztheater teilen sich eine einzige Bühne – eine katastrophale Arbeitssituation. „Öfter als zehn Mal werden die in zwei bis drei Monaten erarbeiteten Tanztheaterproduktionen nicht gezeigt, dann gehen die Dekorationen ins Lager. Das ist frustrierend und künstlerisch demotivierend“, seufzt Hesse. In Basel gibt es in jeder Hinsicht bessere Bedingungen – und einen Fünfjahresvertrag. Nachdem finanzielle Schwierigkeiten ihn nach drei Jahren aus Ulm und nach nur zwei Jahren aus Weimar vertrieben haben, hofft Schlömer nun, in Basel „endlich länger“ bleiben zu können.

Aber noch ist er in der Goethe- Stadt. Nach „Und in der Ferne die Nacht“ und „Kraanerg“ zeigte er vergangene Woche seine dritte Weimarer Produktion: „Hochland oder Der Nachhall der Steine“. Eigentlich sollte es eine grausige, schottische Clangeschichte aus dem 18. Jahrhundert werden, aber nachdem Joachim Schlömer mit seinem Bühnenbildner Frank Leimbach eine Expedition ins schottische Hochland unternommen hatte, drang plötzlich Gegenwart in die Schauerromantik des geplanten Stücks. Vom schon gebauten Bühnenbild, einer Schluchtenlandschaft, ist nur ein Wolkenaushang aus Gaze als Bühnenrückwand übriggeblieben. Vom Schnürboden hängen Neonleuchten herab – Zeichen der industriellen Moderne über einer Landschaft aus Herbstlaub und Steinen.

Der an der Folkwang-Schule ausgebildete Schlömer, der bei Pina Bausch in Wuppertal und bei Mark Morris in Brüssel tanzte, hat seinen eigenen Stil längst gefunden. Das Spiel mit Illusion und Desillusionierung gilt als eines seiner Markenzeichen. In „Hochland“ jongliert er mit Mythen aus Gegenwart und Vergangenheit – eine Reise in das Niemandsland zwischen den Zeiten. Das Bewegungsvokabular ist auf wenige Gesten reduziert, Stimmungen und Posen werden ausgestellt – aber keine Charaktere. Die Figuren treten auf, finden manchmal zu kurzen synchronen Bewegungen und verschwinden wieder. Tänzerische Abläufe werden angerissen und enden abrupt. Schlömers Bilder sind von trockener Ironie – vielleicht gelingt es ihm gerade deshalb, romantische Bilderwelten zu evozieren, ohne in den Kitsch abzugleiten. Kurze, idyllische Tableaux werden sofort wieder gebrochen – eine mentale Geisterbahn, in der Zuschauer, die klare Figurenkonstellationen, eindeutige Gefühle und Identifikationsmomente suchen, unweigerlich den Halt verlieren.

Eine Frau hält ihre Arme weit von sich und bringt die Handgelenke in immer neue Verdrehungen, als versuche sie herauszufinden, ob überhaupt noch Blut durch ihre Adern fließt. Eine Aura von Stummheit und Autismus umgibt diese Figuren. „Die Welt war außerhalb seiner selbst ... Die Bewegung war entscheidend, die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich einfach von seinem eigenen Körper treiben zu lassen“, zitiert das Programmheft aus Paul Austers „New-York-Trilogie“.

Und ähnlich fremd wirken Schlömers skurrile Passanten – entfernte Verwandte der Insassen des Alltagspanoptikums in Handkes „Stunde, da wir nichts voneinander wußten“. Unterwegs durch die Klanglandschaften Michael von Hintzensterns und Hans Tutschkus, die schottischen Folk mit höfischer Barockmusik und Straßenlärm gekreuzt haben. Als wären sie aus dem zerklüfteten Bewußtseinsstrom eines Reisenden auf die Bühne geweht worden. Alles zieht vorbei, nichts läßt sich festhalten. Ein ebenso verwirrendes wie faszinierendes Reisetagebuch. Michaela Schlagenwerth

Nächste Vorstellungen: 20. 9. und 21. 10. 95