Er hatte einen Traum, und er kämpfte dafür: Medgar Evers wollte alle Schilder mit der Aufschrift „No Blacks“ aus der Welt schaffen. Für Weiße war das eine Kriegserklärung – in den USA spielte so einer mit dem Leben. Andrea Böhm über...

Mord, 30 Jahre unbestraft

Er ahnte, daß es irgendwann passieren würde. Die Frage war nur, wann und wo. Zu Hause vor den Augen der Kinder? Nachts irgendwo auf der Landstraße, wenn er seine Detektivtouren unternahm? Am hellichten Tag vor seinem Büro der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP)? Wer in den sechziger Jahren in Mississippi gegen die Rassentrennung mobilisierte, der setzte sein Leben aufs Spiel. Medgar Evers wußte das.

Aufgewachsen ist er in Decatur, Mississippi, wo man Kindern Benimm- und Überlebensregeln eintrichterte: Bete vor dem Essen, rede jeden Weißen mit „Mister“ an, schau nie einem Weißen in die Augen, mach ihnen auf dem Bürgersteig Platz und vergiß nie, was Willie Tingle passiert ist. Willie Tingle hatte das Kapitalverbrechen begangen, sich mit einer weißen Frau einzulassen. Ein Lynchmob schleppte ihn vor den Augen der anderen Schwarzen durch die Straßen. Er wurde an einen Baum gebunden und erschossen.

Aus dieser Kindheit schmiedete Medgar Evers als Teenager Zukunftsträume: in Südamerika Land kaufen, große Häuser bauen mit großen Zäunen und großen Wachhunden; „No Whites“ würde am Eingang stehen.

Evers Utopien veränderten sich im Lauf der Jahre. Zu seinem Lebensziel wurde, alle sichtbaren und unsichtbaren Schilder mit der Aufschrift „No Blacks“ aus der Welt zu schaffen. 1954 trat er den Posten als Bürodirektor der NAACP in Jackson, Mississippi, an: einer Bürgerrechtsorganisation, die gerade den größten Erfolg ihrer Geschichte erzielt hatte: Nach einer Klage hatte der Oberste Gerichtshof im Fall Brown v. Board of Education of Topeka am 17. Mai 1954 die Rassentrennung an den Schulen für verfassungswidrig erklärt.

In Mississippi empfand man jede Kritik an der Segregation als Kriegserklärung. Der Ku-Klux- Klan operierte ungestört; in Dörfern, Städten und Gemeinden etablierten sich „White Citizen Councils“, die mit Boykottaktionen und Erpressungen jeden Schwarzen in den Ruin trieben, der die NAACP oder andere Bürgerrechtsorganisationen unterstützte.

In Zeitungen wurden Todeslisten von NAACP-Sympathisanten veröffentlicht: Evers Name war auf jeder zu finden.

Evers hatte seinen Arbeitstag in zwei Schichten aufgeteilt: Tagsüber registrierte er, gegen den Widerstand und die Tricks der lokalen Behörden, Schwarze als Wähler und dokumentierte für die Zentrale in New York die unverhohlene Mißachtung des „Brown-Urteils“ im Bundesstaat Mississippi. Nachts zog er sich die abgerissenen Kleider eines Landpächters an und fuhr an die Tatorte der Lynchmorde, die wie Brandanschläge und nächtliche Besuche des Ku- Klux-Klan zum Alltag gehörten.

Als sharecropper getarnt, erfuhr er aus dem Klatsch und Tratsch der Schwarzen, was diese aus Angst um ihr Leben vor keinem Gericht ausgesagt hätten. Zum Beispiel, wer am 28. August 1955 in Money, einem kleinen Dorf, den 14jährigen Emmett Till ermordet hatte.

Zwei Angler hatten Emmetts Leiche im Tallahatchie-Fluß gefunden. Um seinen Hals war Stacheldraht gewickelt. Ein Ohr war abgerissen, die Nase eingedrückt. Ein Auge fehlte. Der Kopf, in dem eine Gewehrkugel steckte, war auf die Größe einer Wassermelone angeschwollen. Emmett Till war aus Chicago zu seinen Verwandten in den Süden gereist, um hier die Ferien zu verbringen.

Hier beging er den tödlichen Fehler, der weißen Inhaberin des Krämerladens ein Kompliment zu machen: „Ma'am, Sie sehen so hübsch aus wie ein Filmstar.“ J.W. Milam und Roy Bryant, der Mann der Ladenbesitzerin, entführten Emmett Till in der Nacht des 28. August vor den Augen seines hilflosen Onkels, „um ihm eine Lektion zu erteilen“.

Es kam zum Prozeß. Ein Geschworenengericht, ausschließlich aus weißen Männern zusammengesetzt, sprach die beiden frei. Zwei Monate später berichteten Milam und Bryant einer Zeitschrift, daß Till einfach nicht den angemessenen Platz eines „Niggers“ in der Gesellschaft habe akzeptieren wollen. Daraufhin hätten sie ihn umgebracht.

Das Foto von Emmett Tills grausam entstelltem Gesicht war, zusammen mit der Meldung des Freispruchs, in allen Zeitungen des Landes abgedruckt und mit Empörung kommentiert worden. „Es symbolisiert einfach alles, was an Mississippi und seinem Gerichtssystem so abscheulich war“, resümierte Myrlie Evers, die Frau Medgars.

Bei den Evers wurden Brandanschläge verübt, Scheiben eingeworfen, anonyme Warnungen über ein bevorstehendes Attentat ausgeteilt. Polizisten verprügelten ihn auf offener Straße. Myrlie Evers hatte längst alle Versuche aufgegeben, ihren Mann in einen weniger gefährlichen Job zu locken.

Gegen den Willen seines übervorsichtigen Arbeitgebers, der NAACP, begann er 1962 die Aktionsformen radikaler Gruppen wie dem „Student Non-Violent Coordination Committee“ und Martin Luther Kings „Southern Christian Leadership Conference“ zu übernehmen: Er organisierte einen Boykott gegen weiße Geschäfte in Jackson, die sich weigerten, Schwarze einzustellen.

Der Bürgermeister erklärte im lokalen Fernsehen, bei den Boykotteuren handele es sich um Störenfriede aus anderen Bundesstaaten. Evers verlangte Sendezeit, um zu antworten – und bekam sie. Am 20. Mai 1963 sahen die meisten weißen „Mississippians“ zum ersten Mal mit eigenen Augen jenen Mann, den sie bisher nur aus Zeitungsmeldungen kannten. Evers formulierte die Forderung der Schwarzen: Aufhebung der Segregation.

Für viele Weiße war das eine Kriegserklärung. Einen Tag später wurden weiße und schwarze Studenten bei einem Sit-in in einem „Whites only“-Restaurant von weißen Teenagern zusammengeschlagen, mit Ketchup und Senf übergossen. Am Abend flog eine Brandbombe auf das Grundstück der Evers. Zwei Tage später jagte die Polizei Schüler einer schwarzen High-School mit Hunden und Schlagstöcken über den Hof, weil sie Lieder der Bürgerrechtsbewegung gesungen hatten. Kurz zuvor filmten Fernsehteams den brutalen Einsatz der Polizei von Birmingham, Alabama, gegen eine von Martin Luther King geführte Demonstration. In Washington wuchs der Druck auf Präsident John F. Kennedy, endlich eine klare Stellung zur Frage der Rassentrennung zu beziehen.

Am 11. Juni wandte sich Kennedy in einer Fernsehansprache an das Volk. Er beschrieb die Segregationspolitik in den Südstaaten als „moralische Krise“ des Landes und forderte weitreichende Reformen, die nicht nur die Gesetze, sondern „auch unser tägliches Leben ändern werden“. Myrlie Evers wartete an diesem Abend euphorisch auf die Heimkehr ihres Mannes. Gegen halb eins morgens hörte sie das Knirschen der Autoreifen in der Garageneinfahrt. „Daddy ist da!“ rief eines der drei Kinder. Medgar Evers stieg aus, klemmte einen Stapel Papiere und einige NAACP-T-Shirts unter den Arm und schlug die Wagentür zu. Dann fiel der Schuß.

Die Kugel traf Evers in den Rücken, kam unterhalb der rechten Schulter wieder heraus und endete als Querschläger auf dem Kühlschrank in der Küche. Sein Oberkörper war vollkommen zerfetzt, seine Lungen mit Blut gefüllt. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Der Mord löste Empörung aus. Kennedy verurteilte die „barbarische Tat“ und schickte der Witwe ein persönliches Beileidstelegramm. Die Polizei von Jackson – wohl wissend, daß man im ganzen Land auf die Ergreifung des Täters wartete – erwies sich als überraschend agil. Die Tatwaffe, ein Gewehr der Marke Enfield 30.06, wurde hinter einer Hecke gegenüber des Eversschen Hauses gefunden. Der Besitzer wurde schnell ermittelt. Byron De La Beckwith, ein weißer Vertreter für Tabakprodukte und aktives Mitglied des rassistischen „White Citizen's Council“ in Jackson.

Frische Fingerabdrücke Beckwiths wurden auf dem Zielfernrohr gefunden. Sein rechtes Auge war blau unterlaufen – offenbar eine Folge des Rückstoßes, der das Fernrohr gegen seinen Kopf schnellen ließ. Zeugen hatten Beckwiths Auto zur Tatzeit in der Nähe des Hauses der Evers gesehen. Doch Beckwith stritt alles ab.

Der erste Prozeß begann 1964: Beckwith nutzte die Publicity weidlich, um seine Ansichten über „Nigger“ und Juden zum besten zu geben, die Rassentrennung zu loben und die Überlegenheit der weißen Rasse zu betonen. Die zwölf männlichen weißen Geschworenen konnten sich nicht auf einen Schuldspruch einigen. Die Staatsanwaltschaft erhob wenige Monate später ein zweites Mal Anklage. Wieder war die Geschworenenbank aus zwölf weißen Männern zusammengesetzt. Wieder kam kein Schuldspruch zustande.

Doch Beckwith konnte es sich nicht verkneifen, mit seiner Tat zu prahlen. „Diesen Nigger umzubringen hat mir nicht mehr Unbehagen bereitet als unsere Frauen empfinden, wenn sie unsere Kinder zur Welt bringen“, sagte er einem Freund aus dem Ku-Klux- Klan. Im Laufe der Jahre sammelte die Staatsanwaltschaft von Jackson sechs Aussagen von Zeugen, vor denen sich Beckwith mit dem Mord an Evers gerühmt hatte.

Im Dezember 1990 klagte die Staatsanwaltschaft Byron De La Beckwith zum dritten Mal des Mordes an Medgar Evers an. Zum Prozeß kam es erst vier Jahre später – dieses Mal vor einer Jury, in der acht Schwarze und vier Weiße saßen. Die Geschworenen brauchten nur wenige Stunden, um zu einem Urteil zu kommen: „Schuldig.“ Im vollen Gerichtssaal in Jackson, Mississippi, stieß Myrlie Evers einen Jubelschrei gen Himmel aus: „Medgar, ich habe das letzte Stück dieses Weges geschafft.“ Beckwith, mittlerweile 73jährig, wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er sitzt sie in strenger Segregation von schwarzen Mithäftlingen ab – wie er es sich immer gewünscht hat.

Myrlie Evers-Williams, die inzwischen zum zweiten Mal geheiratet hat, steht wieder in den Diensten der NAACP. Eine Reformfraktion der durch Schulden, Filz und Skandale erschütterten Organisation, trat im Februar diesen Jahres mit der Bitte auf sie zu, für den Vorsitz zu kandidieren. „Niemand, der noch ganz bei Sinnen ist“, antwortete sie spontan, „würde diesen Job übernehmen.“ Am 18. Februar wurde sie gewählt.