Zügel für den Amtsschimmel

■ In Sulingens ansonsten toter Innenstadt tobt manchmal in einer Guinesskneipe das Leben. Doch zwei Richter können nicht schlafen. von Burkhard Straßmann

Sulingen hat zu Recht eine Umgehungsstraße. Doch hartnäckige Reisende finden den Einlaß. Vielleicht das Aufregendste an Sulingen ist, daß es an der Sule liegt. Oder ist der weltberühmte „Bullenschluck“ aufregender, den eine Apotheke verkauft? Sulingen hat wahrscheinlich die verkehrsberuhigteste Innenstadt der Welt (Tempo 20, Baumnasen, Pflanzkübel, eine Stunde Parken mit Parkscheibe). Und doch gibt es in Sulingen etwas Aufregendes: Sulingen hat einen „gesetztesfreien Zustand“, und das fünf Meter neben dem Amtsgericht!

Fünf Meter neben dem Amtsgericht wohnen in einer außerordentlich großen und schicken, von außen besonders schnuckeligen Dachwohnung der Herr Richter und die Frau Richterin. Nennen wir sie Pampgrumpf. Könnte das Leben für Herrn und Frau Pampgrumpf schöner sein? Beide Richter am selben Gericht. Wohnen unterm Dach juchhe. Von Entfernung zum Arbeitsplatz kann keine Rede sein. Man ist umgeben von Altstadt (verkehrsberuhigt), also von Ambiente. Doch was könnte zwei Richter mehr quälen als ein gesetzesfreier Zustand?

Der Name des gesetztesfreien Zustands ist „Amtsschimmel“. Das ist eine Wirtschaft im selben Haus am Amtsgericht. Der Wirt heißt Willi, ist ein Mannsbild, aber aus Bremen. Willi, das bescheinigt ihm ein Zettel an der Wand, zapft das Guiness „nach original irischer Methode“. Wo Guiness original irisch gezapft wird, kommt Musik dazu, das kann gar nicht anders sein. Schon ist die schönste Feierlichkeit im Gange, hoch geht es her, das Leben will Entgrenzung, die Verstärker werden nicht geschont, und noch schöner sitzt man draußen in der Sulinger Sommernacht und trinkt und lacht, und ein Ende will sich nicht einstellen vor eins, man lebt ja nur einmal. Am nächsten Tag kommt Post. Im Briefkopf gleich fünf Rechtsanwälte.

Beschwerdeführer sind nicht die Pampgrumpfs, Gott bewahre. Das ist Herr (wie wär's mit:) Knubbel. Hausmeister vom Amtsgericht. Der wohnt nun direkt im Gericht. Hat ein Kind. Eltern, deren Kinder nächtens aufgrund irischer Lebenslust aufwachen, werden zu Furien, also zu Beschwerdeführern. Insbesondere, wenn sie so schwerwiegende Zeugen aufbieten können wie das Ehepaar Pampgrumpf. Einmal kam Herr Knubbel mitten in der Nacht im Bademantel in den Amtschimmel und tobte. Die Lebenslust lachte rau und verspottete ihn. Verkürzt könnte man den Sulinger Streit also nennen: Kultur versus Nachtruhe. Und wie es im Moment ausschaut, obsiegt die Nachtruhe: Dem Amtsschimmel respektive Willi droht Konzessionsentzug.

Dabei war mal eitel Sonnenschein in der Bannmeile des Gerichts gewesen. Früher, vor 15, 20 Jahren, da öffnete die Wirtschaft früh, und die Justiz nahm hier Kaffee und Besseres zu sich. Ein Schild im „Amtsschimmel“ erinnert: „Hier werden Zeugengelder gewechselt!“ Doch dann kam Willi. Ein Mann, den man tunlichst vor 11 Uhr morgens nicht anredet und der erst abends die Wirtschaft öffnete. Die Justiz verlor ihr Stammlokal und hat das vielleicht heute noch nicht verziehen. Mit Willi kam das Guiness und die Art von Menschen, die das braune Getränk mag. Und es kam die Musik. Das Leben, das ist seine Art, dehnte sich aus. Die Musik wurde häufiger und lauter. Die Sommer wurden schöner. Willi stellte Tische raus. Im strengen juristischen Sinne hätte es der Genehmigung bedurft, sowohl was die Tische, als auch was die regelmäßige Musik anging. Doch wenn zum Vierzigsten des Wirts Big Old Champion Jack Dupree aufspielt, wenn es den Gitarrenlehrer von Jimmi Hendrix persönlich nach Sulingen zieht und lauter Blues- und Folkgrößen sowie allerlei lokale Musikanten – wer wird da nach Papieren verlangen. Die Stadt Sulingen tat's nicht.

Acht lange schöne Jahre ging das gut. Bis vor gut drei Jahren die Pampgrumpfs in der Etage über der Etage überm Amtschimmel einzogen. Leider kam das musikalische Programm von Willi in und um Sulingen, wo ansonsten der Hund verfroren und die Hose tot ist, immer besser an. Und die Sommer wurden immer schöner. Also setzte es Abmahnungen. Anzeigen. Polizeieinsätze. Letztes Jahr landete das Thema auf einem Schreibtisch in Diepholz, was die zuständige Kreisstadt ist. Hier sitzen kein Freunde von Willi und einem gepflegtem Guiness, sondern Spezialisten für fehlende Genehmigungen. Spezialisten für Anhörungsbögen und Bußgeldbescheide. Am 23.2.1995 kam das Verbot, im Amtsschimmel Livemusik zu machen.

Nicht daß danach Friede einkehrte in Sulingen. Die Pampgrumps sagen, es wurde gar noch schlimmer mit dem Amtsschimmel, der ein paar lange gebuchte Musikanten noch auftreten lassen durfte. Nächtelang habe sie nicht geschlafen, sagt Frau Pampgrumpf. Der Wirt trete ja das Recht mit Füßen. Da würden mitten im Sommer Kneipenfenster geöffnet, daß der Krach auf die verkehrsberuhigte Straße drängt. Hausmeister Knubbel wurde beobachtet, wie er Fotos von den Draußentischen machte, um eine unzulässige Expansion zu dokumentieren. Es hagelte rechtlich relevante Briefe in Willis Briefkasten, doch was tat er? Er lachte und spottete. Merkte nichts von den Wolken, die sich in Diepholz zusammenbrauten.

So langsam jedoch scheint er zu begreifen. Daß die ihm den Laden dichtmachen, womöglich. Wenn er sich nicht vorsieht. Enorm vorsieht. Aber taugt einer wie Willi zum Leisetreten? Erst mal macht er jetzt eine Unterschriftensammlung. Er denkt an „ein paar tausend Unterschriften“. Außerdem fordert er seine Gäste auf der Rückseite der Speisekarte (“Für den kleinen Hunger zwischendurch gibt es Bierbeißer und eine Auswahl von bekannten Schokoriegeln“) dazu auf, „geeignete Gegenmaßnahmen (legal und gewaltfrei!) zu ergreifen“. Für Willi nämlich ist der Amtsschimmel „mein Kind – ich hab' sonst keins“. Und für Sulingen ist der Amtschimmel ein Stück Leben. Mitten in der zu Tode beruhigten Innenstadt.

Burkhard Straßmann