Tukur und der Wolf

■ "Der Mörder und sein Kind" am Sonntag um 20.15 Uhr in der ARD

Die Nordseeinsel Amrum ist bekannt für ihre vorzüglichen Radwege. Hier verbringen all jene ihre verlängerten Wochenenden, die nach der Wattwanderung nicht unbedingt ihre Gummistiefel gegen schickeres Schuhwerk tauschen, um den Nachmittagskaffee einzunehmen. Und weil die Luft so besonders gesund das Eiland umweht, gibt es auf Amrum ein Sanatorium für lungenkranke Kinder.

Mit dem Blick auf eine kleine, alleine im Dünensand spielende Patientin beginnt „Der Mörder und sein Kind“. Da wir wissen, daß es immer der gepflegteste Rasen ist, in dem die abgeschnittenen Ohren zu finden sind, daß das Böse, um zum Grauen zu werden, den Kontrast braucht. Nach Sekunden schon fühlen wir uns bestens präpariert für den Anblick der Pflegerinnen, die wenig später die Leiche des kleinen Mädchens finden. Tat und Opfer bleiben unsichtbar für uns, nicht aber der Täter mit dem lockenden Geschenk, einem Seestern. Still und versiert kommen so bereits in den ersten Filmminuten die elementarsten Klischees und Versatzstücke des Mädchenmörder-Genres zum Einsatz – was sollte da noch folgen?

Autorin Sabine Thiesler gestaltete das psychiatrische Klischee der gespaltenen Persönlichkeit deutlich komplexer als meist üblich. Ulrich Tukur als serieller Kleinmädchenmörder Martin Dreyer verfällt nicht abrupt vom netten jekyllschen in den monströsen hydeschen Zustand, er befindet sich vielmehr im ständigen Kampf mit der abnorm geringen Widerstandsfähigkeit, die er seinen mörderischen Impulsen entgegenzusetzen hat. Wir begleiten Tukur bei diesem Kampf, wissend zwangsverbündet mit Dreyer, dem mordenden Yuppie, der durch zunehmenden Jähzorn und Alkoholkonsum Kollegen und Bruder lange nur erstaunt und den es immer weniger beruhigt, wenn er die Fische im Keller seiner jüngst verstorbenen Mutter mit Frischfleisch füttern kann. Als der Mörder durch die Heirat mit Sonja unerwartet zum Kind kommt, spitzt sich der Konflikt seiner im Fachjargon als „Grenzfall-Persönlichkeit“ klassifizierten Innerlichkeit zu: Vaterpflichten versus Mordlust.

Sicher, die Konstruktion der Kindfrau Sonja, die über das Drängen des Werbenden „nicht dazu kommt“ zu erwähnen, daß sie eine Tochter hat, wirkt überaus waghalsig, scheint jedoch geeignet für eine Autorin, die „einfach einen spannenden Thriller schreiben“ wollte, was eben weniger großes Werk als gute Unterhaltung meint. Die Konstellation jedenfalls schafft Platz für das schauspielerische Können Tukurs, der Dreyer mit einer ständig reichhaltiger werdenden tragischen Note ausstattet, die jede Lynchambition verdrängt. Grausig die Hochzeit mit dem bezeichnenden Seitenblick oder das gebannte Hocken des Mörders am Bett der Tochter nach der Gutenachtgeschichte. Daß es sich bei jener ausgerechnet um die mit dem bösen Wolf handeln muß, mag man gütig als ironischen Verweis darauf verstehen, daß eben alles schon einmal erzählt worden ist.

Daß Sabine Thiesler die Filmwelt ein wenig korrekter gestaltete, als die Wirklichkeit ist, gibt der WDR-Produktion zusätzlich einen angenehm sozialpädagogischen Touch: Der Kommissar ist eine Kommissarin, die nicht aussehen muß wie Brigitte Nielsen im Marines-Look, der Standesbeamte ist eine Beamtin, und der nette, im Rollstuhl befindliche Bruder des Mörders darf sich über mehr als nur seine Behinderung definieren. Daß am Ende doch mehr Thrill als Korrektheit herausspringt, belegt nicht allein die Tatsache, daß final zwar kein Küchenmesser, aber doch ein Metallgegenstand mit Holzgriff geschwungen wird, und last, but not least: Der Klimax führt Tukur und uns wieder in die Dünen Amrums. Claudia Thomsen