Eine echt polnische Landpartie

Das Kartenmaterial ist schlecht, die Wege sind falsch ausgeschildert – um so gößer die Überraschungen  ■ Von Michael Bienert

Gorzów, eine geschäftige Handels- und Industriestadt mit 122.000 Einwohnern, ist der Ausgangspunkt unserer Fahrradreise südlich der Warthe. Ehe die Stadt 1945 polnisch wurde, hieß sie Landsberg und war der urbane Mittelpunkt der ostbrandenburgischen Neumark. Um die frühgotische Marienkirche herum herrscht heute das blanke Chaos aus Verkehr, sozialistischem Funktionalismus, Computer- und Coca-Cola- Reklame. Gorzów ist nichts für Erholungsuchende. Wir fahren gleich weiter.

Mißtrauisch gegen die kulinarische Kultur der postsozialistischen Länder, haben wir einen Campingkocher im Gepäck. Er erweist sich als das wichtigste Requisit: Frisches Brot, Obst und Gemüse, Milch, Konserven und Wodka gibt es selbst auf dem kleinsten Dorf. In größeren Orten kaufen wir frischen Kuchen, Knödel und verschiedene Sorten Pirogi zum Aufwärmen, gefüllt mit Quark, Blaubeeren, Pflaumen oder Sauerkraut und Pilzen.

Die Ausfallstraßen von Gorzów sind stark befahren. Kein Vergnügen für Radfahrer. Erst nach einigen Kilometern läßt der Verkehr nach, und die Lust an der Landpartie beginnt. Die von eiszeitlichen Moränen geformte Landschaft ist leicht hügelig und sehr abwechslungsreich mit ihren kleinen Dörfern, Feldern und den zahllosen Seen. Es gibt kaum Schwerindustrie, die Region lebt vor allem von der Land- und Forstwirtschaft, von Handel und Tourismus. Man kann unbeschwert durchatmen.

Unser erstes Ziel ist Lubniewice. Der Ort liegt zwischen zwei Seen und hat trotz des Tourismus seine dörfliche Atmospähre bewahrt. Um die Jahrhundertwende wurde ein Schloß direkt am See gebaut, heute ist es ein Hotel. Hinter dem Schloß liegen ein Reiterhof und der Campingplatz „Pod Sosnami“ (Unter den Föhren). Dort mieten wir ein domek, ein Holzhäuschen, für 25 Zloty (etwa 15 DM) pro Nacht.

Auf den meisten Campingplätzen gibt es solche Hütten, die wenig Komfort bieten, aber einem für wenig Geld das Gefühl geben, ein festes Dach über dem Kopf zu haben. Bis zu fünf Personen finden darin Platz. Die Hütten haben nur selten einen eigenen Wasseranschluß, aber dafür eine Sonnenterrasse zum Frühstücken. Und so ein domek läßt sich abschließen. Es ist also ein idealer Stützpunkt für unbeschwerte Tagesausflüge in die Umgebung. Wer die Stille sucht, findet sie hier in den Wäldern um Lubniewice gewiß.

Nach drei Tagen fahren wir weiter nach Lagow. Dort hat der Tourismus die Ruhe des einstigen Luftkurortes zerstört. Auf den Straßen flanieren große Urlaubertrupps, aus primitiven Straßencafés dröhnt Musik. Der Campingplatz ist riesig, anonym und laut. Nach einer Nacht nehmen wir reißaus und fahren auf Verdacht Richtung Sulencin (Zielenzig). Unseren Karten nach handelt es sich um keinen sehenswerten Ort. Doch nach der Erfahrung mit Lagow erscheint das vielversprechend.

Leider lassen die in Deutschland erhältlichen Karten keine verläßlichen Rückschlüsse auf die Qualität der Straßen, der eingezeichneten Ferienzentren, Camping- oder Biwakplätze zu. Viele Plätze sind gar nicht eingezeichnet. Wer Polen auf eigene Faust erkunden will, sollte deshalb keine Buchhandlung, keine Touristeninformation auslassen, um dort nach Regional- und Touristenkarten zu suchen. Scheinbare Wüsten wie Sulencin entpuppten sich nachträglich als Gegenden mit Kajakverleih, ausgewiesenen Wander- und Fahrradwegen.

Wanderer und Radfahrer sollten sich vor allem die topographischen Karten (Mapa topograficzna) im Maßstab 1:200.000 besorgen. Damit lassen sich die größeren Autostraßen umgehen, und man findet verträumte Ortschaften oder Seen, die nirgends sonst eingezeichnet sind.

Ausgeschilderten Fahrradrouten traue man grundsätzlich nie – sie führen fast immer in die Irre. Und selbst wenn man mehrere Karten zu Rate zieht, ist man vor Überraschungen nicht sicher.

In Osno Lubuskie (Drossen) lernen wir dann die polnische Art, Urlaub zu machen, kennen: das Biwakieren. Unweit der mittelalterlichen Stadtmauer finden wir zunächst einen Campingplatz, der leider gleich neben dem Freibad liegt. Polnische Freibäder bestehen aus ein paar Holzstegen am See, einem Bademeister und einem Lautsprecher, der unablässig Diskomusik auf die kreischenden Kinder plärrt. Wir suchen also einen der Biwakplätze außerhalb der Stadt auf. Biwakplätze (Pola biwakowe) sind von den Forstämtern betreute Zeltplätze, deren Nutzung nichts oder nur ein paar Groszy kostet. Da die Preise für andere Unterkünfte stark gestiegen sind, erfreut sich diese Art der Sommerfrische bei den Einheimischen wachsender Beliebtheit. Auf einem Biwakplatz lassen sich auch Musik und Gekreische leichter ertragen als in den früher sozialistischen Urlaubsparadiesen in Lagow oder am Mierziner See, wo bis zu zweitausend Urlauber in einer einzigen Anlage untergebracht sind.

Den Mierziner See erreicht man auf einer sehr schönen Fahrradroute an der Warthe entlang, am besten ausgehend von Skwierzina. So schön die Flußlandschaft und die Seen um Miedzychód sind, in den Gewässern fließt eine abstoßende Brühe. Ganz anders 20 Kilometer südwestlich in Pszczew. Der Ort liegt in einem weiträumigen Naturpark mit einunddreißig Seen und zahlreichen Reservaten für geschützte Vogelarten. Die vielen Urlauber verteilen sich auf eine große Zahl von Ferienzentren und Biwakplätzen in der Umgebung. Selbst an dem langen flachen Sandstrand bei Pszczew kann man Fische unter sich wimmeln sehen oder Störche, die hoch über den Köpfen der Badenden ihre Kreise ziehen.

Leider fahren keine Personenzüge mehr nach Pszczew. Zwar steht auf dem Bahnhof eine lange Reihe Waggons, aber über den Puffern sind Wäscheleinen ausgespannt, und aus den Fenstern ragen Fernsehantennen. Bis zum See sind es ein paar Schritte. Auch das Bahnhofsgebäude dient als Ferienhaus. An der Rampe döst ein Paar auf einem alten Sofa – Urlaubsglück auf polnisch.