Russisches Atomroulette

■ Atomkraftwerk sperrte die Stromversorgung für die ausrangierten Atom-U-Boote auf der Kola-Halbinsel. Jetzt droht die Marine mit Waffengewalt

Kopenhagen (taz) – In der Nacht zum Freitag stand Nordeuropa an der Schwelle eines schweren Atomunglücks. Ein ausrangiertes Atom-U-Boot auf einer russischen Marinebasis im Murmansk-Fjord drohte wegen Kernschmelze zu explodieren und große Mengen Radioaktivität freizusetzen.

Blanker Geldmangel der Militärs hatte beinahe die Katastrophe ausgelöst. Das Atomkraftwerk Poljarnij Zorij hatte der gesamten Nordflotte im Gebiet von Murmansk den Strom abgeklemmt – wegen unbezahlter Stromrechnungen in Höhe von umgerechnet etwa 20 Millionen Mark. Damit hatte das wirtschaftlich angeschlagene und daher selbst mit ernsthaften Sicherheitsproblemen kämpfende Atomkraftwerk seit über einem Jahr mehrfach gedroht, um wenigstens ein paar seiner offenen Rechnungen begleichen zu können.

Im Falle der Flottenbasis im Murmansk-Fjord war die Drohung allerdings ein Spiel mit dem atomaren Feuer. Im Gebiet der Kola- Halbinsel liegen in sechs verschiedenen Flottenbasen zwischen 40 bis 50 ausgediente Atom-U-Boote, die auf ihre Ausschlachtung warten. Da ihre Reaktoren noch heiß sind, müssen sie ständig gekühlt werden.

Zwar verfügt jede Basis auch über eigene dieselbetriebene Notgeneratoren, doch am Freitag abend sprangen gleich mehrere von ihnen wegen eines technischen Defekts nicht an. In einem der U-Boote konnte deshalb der Kühlkreislauf nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Temperatur stieg sehr schnell an. In einem von Radio Murmansk gestern ausgestrahlten Interview sagte ein Atomtechniker, daß der Reaktor des U-Boots „kurz vor der Explosion“ stand. Die Alptraum konnte nur in letzter Minute abgewendet werden. Die Marinebasis rief das Atomkraftwerk Poljarnij Zorij an und beschrieb, was bevorstand. Die Kraftwerksleitung schaltet die Stromversorgung dann doch lieber wieder ein.

Gestern wurde von Radio Murmansk auch der entnervte Befehlshaber der Nordflotte interviewt. Es sei bereits das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit gewesen, daß das Atomkraftwerk der Flotte den Strom abgestellt habe. Das sei aber ebenso gefährlich wie sinnlos, schimpfte der Kommandant, denn die Flotte bekomme von der Moskauer Regierung nun mal so wenig Geld, daß sie ganz einfach die Stromrechnungen nicht mehr habe bezahlen können. Falls es noch einmal zu einem ähnlichen Notfall kommen sollte, werde das Militär nicht zögern, vor dem Atomkraftwerk aufzumarschieren um „mit Waffengewalt die Stromversorgung zu sichern“. rw