„Du kriegst das Kotzen“

Im östlichsten Ortsverein der SPD hat sich Frust über die Personaldebatte an der Führungsspitze breitgemacht. Die Basis rettet sich in Galgenhumor und hofft auf eine programatische Erneuerung  ■ Aus Görlitz Detlef Krell

Wer den Schaden hat, muß für den Spott eigentlich nicht selbst sorgen. Wenn Georg Voget-Kästner morgens im Bus die Leute über die „Chaoten in der SPD“ lästern hört, outet er sich immerhin noch als „auch einer von denen“. Was ihm daraufhin so um die Ohren fliegt, „verlangt schon einiges Selbstvertrauen. Aber das geht bald zur Neige“.

Seit 1966 besitzt der Gewerkschafter sein Parteibuch. Auch damals wäre er „am liebsten gleich wieder ausgetreten“, als die SPD auf die Große Koalition einging. „Da flogen die Fetzen, aber es ging immer um Politik, nicht um Personen.“ Heute könne er nicht einmal mehr über ein kommunalpolitisches Thema reden, ohne auf Rudolf Scharping angesprochen zu werden. „Ich schlage morgens die Zeitung auf, in der Gefahr, mir ein Magengeschwür zu holen.“

Nun gibt dieser gestandene SPD-Mann dem Hohn noch eins drauf. Zur Mitgliederversammlung seines Ortsvereins Görlitz verteilt er einen Antrag an den Bundesparteitag. Die Partei möge doch eine „silberne Ehrennadel für 25monatige und die goldene für 50monatige ununterbrochene Mitgliedschaft in der SPD“ verleihen. Wer heute in der SPD als aktives Mitglied arbeite, brauche Ermutigung.

Die GenossInnen lesen das und feixen. Manchem geht der Hintersinn erst beim letzten Satz auf: Die Frist für Ehrungen sollte bis zum Parteitag „auf Wochen, wenn nicht auf Tage“ reduziert werden, wenn die „höheren Genossen im Porzellanladen“ weitermachen wie bisher. „Was der Schröder kann“, höhnt jemand, „das können wir auch. Genau im falschen Augenblick nochmal nachtreten.“ Ein anderer flucht: „Wenn du das Theater da oben siehst, kriegst du das Kotzen.“ Etwas nachdenklicher meint sein Tischnachbar: „In Deutschland wird zur Demontage des Sozialstaates geblasen, aber die SPD-Führung kriegt sich in die Wolle ...“ Am Wochenende, beim SPD-Stadtfest, habe ihm ein CDU-Abgeordneter gönnerhaft auf die Schulter geklopft: „Wann kommst du zu uns, da hättest du deine Ruhe.“

Scharping so ungeeignet wie Schröder

Rund 70 Mitglieder zählt der östlichste SPD-Ortsverein Deutschlands. Monat für Monat muß er die Zahl korrigieren, meistens nach unten. Als die SozialdemokratInnen zur Urwahl ihres Vorsitzenden aufgerufen waren, hatte Görlitz sich für Gerhard Schröder entschieden. „Wir meinten“, erklärt Voget-Kästner, „der würde besser zupacken.“ Alle anderen ostdeutschen Ortsvereine stimmten für Scharping. Heute halten die Görlitzer den einen für so ungeeignet wie den anderen, alle Parteiruder allein in die Hand zu nehmen. Das „Raumschiff Bonn“ agiere in Panik. „Jeder Ortsvereinsvorsitzende würde abgelöst werden“, benähme er sich wie Rudi.

Scharping habe ein ausgesprochenes Geschick, falsch zu reagieren; Schröder dagegen hafte ewig der Verdacht des Karrierismus an. „Wir Frauen“, ahnt die Görlitzer SPD-Fraktionsvorsitzende Petra Thomas, „sind wohl die besseren Diplomaten.“ Dennoch möchte sie eine Heide Simonis nicht an die Parteispitze drängen: „Ich mag die Frau. Wir können uns nicht immer wieder erlauben, unsere besten Leute zu verschleißen.“ Statt dessen sollten diese Herren ihren Hahnenkampf „in einem geschlossenen Raum“ austragen – und wieder zur Politik zurückkehren. Scharping demonstrativ zu unterstützen, wie es das Parteipräsidium getan hat, sei das falsche Signal. „Ich hoffe, daß spätestens der Parteitag eine offene Aussprache wagt.“ Scharping solle sich bis dahin endlich von der Zwangsvorstellung lösen, an allen Spitzenämtern kleben zu müssen.

Petra Thomas wird nach Mannheim fahren und den satirischen Antrag ihrer Görlitzer GenossInnen mitbringen. Gemeinsam mit den anderen sächsischen Sozis will die Görlitzer Delegierte aber auch einen ernstgemeinten Vorstoß wagen: Der nächste Parteitag soll ein neues Programm beschließen, eines, das „ostdeutsche Handschrift“ trage. Dieser SPD-Programmparteitag soll 1996 nach Görlitz einberufen werden – 75 Jahre, nachdem die Partei in der Neißestadt ihr „Görlitzer Programm“ für einen „demokratischen Sozialismus“ beschlossen hatte.