Opa, du schaffst das!!

Rudolf R. gehört zu den Nieten des 22. Berlin-Marathons, die das Laufpensum nicht bewältigten, doch das Laufen ist für ihn die beste Therapie / Aufkehren, wer auf der Strecke bleibt / Eine Fahrt mit dem Besenwagen  ■ Von Tomas Niederberghaus

Puterrote Köpfe. Versteinerte Gesichter. Übersäuerte Waden. Kurz vorm Kollaps. Und doch schleppen sich die Leiber rastlos über den Asphalt. Die Menge jubelt. Weitermachen, grölt ein Alter, nur nicht aufgeben. Dann streckt er seine Kuhglocke gen Himmel und bimmelt, was das Zeug hält. Selbst die unsportlichsten Kreuzberger hissen Banner und Wimpel. Berlin ist auf den Beinen – wir rollen hinterher.

Halt. Rien ne va plus. Nicole Seizinger macht schlapp. Postmarathonische Negativsyndrome überfallen die Heilbronnerin schon weit vor dem Ziel. Der Bus hält, Nicole steigt ein. Besenwagen nennen die Veranstalter das Fahrzeug, mit dem im Windschatten der LäuferInnen die Nieten aufkehrt werden.

Nieten? Von wegen! Es gehe, sagt Nicole, nur ums Dabeisein. Erst Samstag hat sie sich entschieden mitzulaufen. Hat sich fix ein Paar weiße Turnschuhe gekauft. Und nun, sagt sie, „bin I begeischtert von der Atmosphäre“. Schon die Kohlenhydrat-Party in der Deutschlandhalle sei „brudal luschtig“ gewesen. Ihr Körper zittert. Zwei Decken können das Beben kaum bändigen. Muffensausen hat sie nicht: „I bin Krankenschweschter, I woiß wo d' Grenzen sind.“

Im Besenwagen wird keine Trübsal geblasen. Schon nach wenigen Minuten waren die Topläufer verschwunden. Keine Spur mehr von den siegessicheren Athleten, deren durchtrainierte Körper schweißglänzend über den Asphalt davonhuschten. Der Pulk hatte sich fix wie ein Kaugummi auseinandergezogen. Ein weites Feld. Und nun trudeln die Gestrandeten nach und nach ein. Am Straßenrand: Tony Quin. Hüfte und Waden, einfach gestreikt. Der 33jährige Brite, wohnhaft in Nürnberg, schleppt sich wie ein Roboter in den Bus. Ein Soldat, muskelbepackt, tätowiert, durchtrainiert. Doch die Schlappe macht auch vor den größten Helden nicht halt.

Tony robbt zu einem freien Sitz, dicht gefolgt von Rudolf. Rudolf, ein Mann mit grauen Haaren und dritten Zähnen. Zum achten Mal ist er dabei. Schon im vergangenen Jahr, sagt er, habe ihm ein „Frechdachs“ zugerufen: „Opa, du schaffst es.“ Doch er hat es nicht geschafft. Auch diesmal nicht. „Vor 15 Jahren“, sagt er, „habe ich zum ersten mal gejoggt.“ „Joggen“, das sei eine Art Therapie. Früher war er alkoholabhängig, nun läuft er. Er hätte weiterlaufen können. „Doch der Herrgott“, wie er sagt, „hat es nicht gewollt.“ Der Herrgott ist seine Gemahlin. Sie war es, die ihm befohlen hatte: Bei den ersten Beschwerden machst du sofort Schluß! Schließlich stehe der große Lauf auf dem Nürburgring noch bevor. Rudolf lacht.

Leben, was bist du schön. In der sengenden Spätsommersonne klingen die Bierflaschen. Rasseln rasseln. Die Zuschauer grölen. Der Marathon, ein Fest. An der U-Bahnstation Karl-Marx- Straße trommeln Musiker auf rotgestrichenen Ölfässern, Parteien erheben den Lauf zur Wahlparty mit Kaffee und Kuchen. Und in der Gneisenaustraße hat ein altes Paar, beide im Trainingsanzug, seine Spießbürgerhöhle kunterbunt beflaggt. Sie hocken im Fensterrahmen, jubeln den Verlierern zu. Vom Besenwagen aus bleibt einem kein Blick erspart.

Am Straßenrand beginnt bereits das große Reinemachen. An den Wasserstellen ist der Asphalt von platt getrampelten Pappbechern übersät, die weißen Reste gleichen Schneematsch. Grüne Vertreter der Bundeswehr kratzen die Reste zusammen. Ganz sorgfältig, ganz tüchtig. Der Marathonlauf neigt sich dem Ende zu. Schon vor gut zwei Stunden schepperten die Namen der Sieger durchs Radio. Doch vorm Besenwagen treibt der Stolz zwei kraftlose Körper weiter. Schneckentempo. Einer der Veranstalter verläßt das Fahrzeug, fordert die dauergewellte Blondine und den bezopften Lulatsch zur Kapitulation auf. Mehrmals redet er auf sie ein. Die zulässige Sollzeit, erklärt er ihnen, ist längst überschritten. In den Seitenstraßen tosen bereits wieder die Autos. Einige Minuten später geben sich die zwei einen Ruck. Im Besenwagen mümmeln sie Bananen, trinken Wasser und gewöhnen sich an den Gedanken, schließlich nicht völlig auf der Strecke geblieben zu sein.

Natürlich bringt der Wagen die letzten ans Ziel. Wenngleich es in der Veranstalterbroschüre fettgedruckt hieß: „Verabschieden Sie sich bitte vorher von Ihren Angehörigen und Vereinsfreunden. Das Erinnerungsphoto muß am Ernst- Reuter-Platz ... geschossen werden.“

„Wie gerne“, sagt eine erschöpfte Läuferin aus Bayern, „hätte ich die Teilnehmernadel bekommen.“ Vielleicht erfüllt sich ja dieser Wunsch im nächsten Jahr.