Lissabon zwischen Verfall und Sanierung

Laut Statistik hausen in Lissabon insgesamt 38.000 Menschen in Slums. Die Zahl ist wohl zu niedrig  ■ Aus Lissabon Theo Pischke

Die zwei Welten liegen nicht weit auseinander. Vom Bahnhof AlcÛntara bis nach Casal Ventoso braucht der Linienbus nur acht Minuten. Im Lissaboner Stadtteil AlcÛntara steigen täglich Zehntausende von Pendlern in die Vorortzüge. Nach Casal Ventoso pendeln täglich Hunderte von Drogenabhängigen, um sich dort ihre Dosis zu holen. Der Bus hält dort, wo das Rot-Kreuz-Auto steht. Die Rot-Kreuz-Frau im Wagen tauscht gebrauchte Spritzen gegen neue ein. Hier beginnt die andere Welt.

Casal Ventoso ist der größte Drogenmarkt Portugals. Auf der Erde, 20 Meter vom Rot-Kreuz- Auto entfernt, hocken ausgemergelte Gestalten, die Aluminiumfolien feilbieten. Die brauchen die Fixer. Der Boden ist übersät mit gelb-blauen Pappschachteln, in denen die vom Roten Kreuz verteilten Spritzen verpackt waren. In Casal Ventoso wurden im vergangenen Jahr 470.871 gebrauchte Spritzen gegen neue eingetauscht.

Das Viertel ist ideal für den Drogenhandel, ein Gewirr steiler Gassen und Treppen. Die Wege haben meist keine Namen. Und nur eine einzige Straße führt ins Viertel; leicht zu überschauen. Wenn die Polizei kommt, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer.

Die 4.250 Einwohner leben in völlig heruntergekommenen Bruchbuden oder in Baracken aus Wellblech. Laut Statistik der Stadtverwaltung haben 39 Prozent der Wohnungen kein fließendes Wasser, 27 Prozent keinen Abwasseranschluß, 42 Prozent keine Küche. Es gibt keine Grünanlagen, keine Gärten, keine einzige Schule, keinen Markt, keinen Arzt. Casal Ventoso sei „das nationale Symbol für menschliche Erniedrigung und Verwahrlosung“, sagt der Lissaboner Bürgermeister Jorge Sampaio. Doch das soll sich ändern. Casal Ventoso soll saniert werden. Pläne dafür gibt es schon seit Jahren. „Jetzt ist das notwendige Geld da“, sagt Eduardo Graça, Leiter der von der Stadt eingesetzten Arbeitsgruppe zur Sanierung des Viertels.

Bereits 1993 hatte die Regierung ein Wohnungsbauprogramm angekündigt, um mit den Baracken in Lissabon und anderen Städten Schluß zu machen und ihre Bewohner in feste Häuser umzusiedeln. Doch erst ein Jahr später schloß sie mit den Kommunen entsprechende Verträge ab. Und jetzt kommt auch finanzielle Hilfe der EU. 36 Millionen Mark hat die EU im Rahmen des europäischen Stadtsanierungsprogramms Urban bewilligt, um aus Casal Ventoso ein bewohnbares Viertel zu machen. Hinzu kommen 60 Millionen Mark von der Stadt und der portugiesischen Regierung. 450 Baracken und Bruchbuden sollen abgerissen, die dort lebenden Menschen in neue Mehrfamilienhäuser umgesiedelt werden. 150 Häuser werden renoviert.

„Wir müssen das anpacken, damit Casal Ventoso so wird wie es war, bevor die Drogenhändler kamen: ein Viertel mit guter Nachbarschaft, mit großer Solidarität“, sagt José Luis Coelho, Leiter des Sozialzentrums von Casal Ventoso. Das Zentrum ist eine Oase inmitten des Verfalls. Hier gibt es eine Altentagesstätte, Jugendräume, Kinderkrippe und -garten für 145 Kinder, eine Großküche, in der täglich 473 Mittagessen für die Ärmsten zubereitet werden.

Auch für die Kindergartenkinder wird gekocht. „Samstag und Sonntag haben wir geschlossen“, sagt Coelho. „Am Montag lassen sich viele Kinder ihren Teller dreimal vollmachen. Ein Zeichen dafür, daß sie am Wochenende nicht genug zu essen bekommen haben.“

Ein geregeltes Leben ist für die Menschen aus Casal Ventoso nur schwer möglich. „Das Viertel hat so einen schlechten Ruf, daß die Leute hier von Anfang an Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden“, sagt der Leiter des Sozialzentrums. Die katastrophalen Wohnverhältnisse sind für ihn Ursache allen Übels. „Das wichtigste für die Kinder sind eine gute Erziehung und Ausbildung“, meint Coelho, „aber wie soll das gehen, wenn die Familien zu fünft, sechst in einem Zimmer leben, wo alle auf einem Haufen schlafen, wo es kein Badezimmer gibt und kein Klo, wo die Leute in einen Eimer pinkeln müssen, wo Vater und Mutter Geschlechtsverkehr haben vor den Augen der Kinder. Dies alles läßt die Menschen verrohen.“

Viele Jugendliche aus dem Viertel haben sich vom schnellen Geld ins Drogengeschäft locken lassen. Umgerechnet 100 Mark am Tag bezahlen die Händler fürs Schmierestehen, fürs Warnen vor der Polizei. Das sind 1.000 Mark in zehn Tagen. Ein Bauarbeiter in Portugal verdient umgerechnet etwa 850 Mark im Monat. Coelho ist zuversichtlich, daß mit der Sanierung von Casal Ventoso auch der Drogenhandel abnimmt.

Auch Cova da Moura war ein „bairro de lata“, ein „Blechviertel“. Jetzt sind die Häuser einfach, aber fest. Fast 4.000 Menschen leben hier; fast ausschließlich Immigranten aus den einstigen Kolonien in Afrika. Als die ersten 1974, nach der „Nelkenrevolution“, nach Lissabon kamen, bauten sie Hütten aus Holz. In den vergangenen 21 Jahren haben sie diese Hütten nach und nach durch gemauerte und verputzte Häuser ersetzt.

„Dies ist alles illegal“, sagt Eduardo Pontes und weist mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Häuser. „Das Gelände gehört einer reichen Senhora, die sich nach der ,Nelkenrevolution‘ Hals über Kopf nach Brasilien davongemacht hat. Damals gab es hier nur Wiesen und Gebüsch. Jetzt, wo die Häuser stehen, will sie Geld für ihr Land.“

Pontes ist einer der wenigen Weißen im Viertel. Zuerst wohnte er in einer Baracke ohne fließendes Wasser. „So ging das drei Jahre lang. Nach und nach haben sich die Bewohner organisiert. Und heute haben alle Häuser Strom- und Wasseranschlüsse. Selbst Telefon gibt es schon, und viele Straßen sind asphaltiert.“ Pontes will hier nicht mehr weg: „Ich habe Wurzeln geschlagen. Wir pflegen eine gute Nachbarschaft, leben zusammen, halten zusammen.“ Auf den illegalen Bau der Häuser angesprochen zuckt er nur mit den Schultern: „Sie werden schon nicht alles abreißen.“

Im Viertel Quinta do Mocho im Lissaboner Vorort Sacavém wohnen mehr als 1.000 afrikanische Immigranten, die Mehrheit von ihnen aus Angola und Guinea-Bissau. Quinta do Mocho – das sind zwölf zehnstöckige dachlose Häuser im Rohbau, die wie Steingerippe in den Himmel ragen. Die Baufirma machte 1975 Pleite. Die Häuser wurden nie fertig. Doch nach und nach zogen Menschen ein. Menschen auf der Suche nach einer Bleibe. Die Häuser sind bis in den siebten Stock hinauf bewohnt, die Zwischendecken der weiter oben gelegenen Stockwerke dienen als Dach. Aus vielen der wie leere Augenhöhlen klaffenden Fenster hängt Wäsche. Andere sind mit Brettern vernagelt. Wenige sind verglast. Es gibt keine Badezimmer, keine Toiletten, kein fließendes Wasser, keinen Strom.

Im offenen Treppenhaus gibt es keine Geländer. Die Leute müssen sich im Dunkeln vorsichtig hinauftasten, um nicht in die Tiefe zu stürzen. „Besonders für die kleinen Kinder ist das Treppensteigen höchst gefährlich“, sagt der 29jährige Hernani Nogueira. Immer wieder zapfen die Leute aus Quinta do Mocho mit eigenen Kabeln die Stromleitungen in der 700 Meter entfernten Nachbarschaft an. Doch nach ein paar Tagen werden die Kabel von Arbeitern der Elektrizitätsgesellschaft wieder gekappt. So geht das hin und her.

Auf halbem Weg zwischen den Häusern und der staubigen, ungeteerten Straße, die dorthin führt, gibt es einen öffentlichen Wasseranschluß. Auch vier Wasserbecken, in denen Frauen Wäsche waschen. Sie rubbeln, scheuern und wringen. Trinkwasser wird in Eimern in die Wohnungen geschleppt. Fäkalien werden in Plastiktüten herausgeschafft und auf den Müll geworfen. Post hinterlegt der Briefträger in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft. Dort können sie die Leute von Quinta do Mocho abholen. „Viele Briefe gehen verloren“, klagt Hernani Nogueira.

Doch eine schlechte Nachricht kommt meistens an. Und im Juli kam eine schlechte Nachricht: Die Wohnungsbaugesellschaft SINA, der die Bauruinen gehören, will die Bewohner und Bewohnerinnen hinauswerfen. Das Gericht hat bereits einer Räumungsklage stattgegeben – jeden Tag kann sie vollstreckt werden.