„Zurück gehe ich auf keinen Fall!“

Seit dem Inkrafttreten des „Rückübernahmeabkommens" bereiten sich immer mehr VietnamesInnen auf den illegalen Aufenthalt vor. Hilfsorganisationen befürchten großangelegte Polizeiaktionen  ■ Von Anja Nitzsche

Lan geht langsam durch ihr Zimmer. Ihre Finger streichen über den Schrank, das billige Regal und das Bett. Lan überlegt. Was lohnt sich, mitzunehmen? Schließlich entscheidet sich die Vietnamesin für ein paar Bücher, die Porträts ihrer Familien und zwei Pullover. Der Recorder, erst vor kurzem gekauft, bleibt stehen. Die hellblaue Reisetasche neben ihr ist noch halbleer. „Das reicht“, erklärt sie, „schließlich darf mein Gepäck nicht so schwer sein, wenn ich hier verschwinde, um unterzutauchen.“

Drei Jahre lang hat Lan hier gelebt, in diesem zehn Quadratmeter großen Zimmer in der Gehrenseestraße, zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter Phuong, ihrem Mann und einigen Freunden. Phuong liegt auf dem breiten Bett und schläft. „Keine Sorge“, meint Lan, „manchmal haben hier mehr als zehn Leute im Zimmer gewohnt. Die Kleine hat sich an den Lärm gewöhnt.“

19 Jahre alt war Lan, als sie nach Deutschland kam. Ein Freund in ihrer Heimatstadt Haiphong hatte ihr geraten: „Geh dorthin, da kann man einen Asylantrag stellen, arbeiten und viel Geld verdienen.“ Lan, die in Vietnam keinen Beruf erlernt hatte und monatlich mit dem Verkauf von Reiskuchen im günstigsten Fall drei Dollar verdiente, ließ sich gern überreden. Schlepper halfen ihr bei der Reise nach Berlin. Zwischenstationen waren Rußland und Polen. Die 5.000 Dollar, die sie dafür benötigte, borgte sie sich von Bekannten.

Im Januar diesen Jahres erhielt Lan ihren Bescheid von der Ausländerbehörde: „Sofern Sie nicht innerhalb von sechs Wochen nach Zustellung dieses Bescheides freiwillig ausgereist sind, wird Ihnen hiermit die Abschiebung in Ihr Heimatland angedroht (§ 49 Abs. 1 und 2 Nr. 1 AuslG).“ Noch im Januar hat Lan diese Androhung nicht sonderlich interessiert. Hatte der vietnamesische Staat sich doch über Jahre beharrlich geweigert, seine Landsleute wieder aufzunehmen und das Einreisevisum verweigert. Das Sozialamt zahlte weiter, Lan fand sogar einen Platz in einer Kindertagesstätte für ihre Tochter und eröffnete eine kleine Suppenküche im Wohnheim. „Davon hätte ich in Vietnam nur träumen können“, schwärmt sie.

Doch mit diesem Traum ist es nun vorbei. Seit letzter Woche ist das sogenannte „Rückübernahmeabkommen“ zwischen Vietnam und der Bundesrepublik in Kraft. Darin ist die Abschiebung von rund 40.000 illegal in Deutschland lebenden VietnamesInnen in den kommenden fünf Jahren festgelegt. Bonn hat sich das Zugeständnis der vietnamesischen Regierung einiges kosten lassen. Noch in diesem Jahr sollen 25 Millionen Mark Entwicklungshilfe gezahlt werden, die an spezielle Projekte gebunden sind. Außerdem werden bisher eingefrorene Mittel in Höhe von 75 Millionen Mark freigegeben.

Noch ist es ruhig. Zur Zeit begnügen sich die Behörden mit der Zusammenstellung von Listen. 162 Namen von „vietnamesischen Straftätern“ wurden bisher zusammengetragen, bestätigt Staatssekretär Kuno Böse. Verbunden mit genauen Daten zur Person, deren Familienangehörigen, zum Aufenthaltsort, Zweck der Einreise in Deutschland etc., werden diese Namen nach Hanoi geschickt. Hier findet dann eine eingehende Prüfung der Identität der Rückkehrer statt. Eine aufwendige Prozedur. Die vietnamesische Regierung hat sich für die Auswertung der Angaben in „einfachen Fällen“ eine Frist von sechs Wochen, bei schwierigen Recherchen gar von drei Monaten vorbehalten. Diese, nun überprüften, Listen werden wieder nach Deutschland geschickt. „Wir rechnen jeden Tag damit, die ersten Daten aus Hanoi zurückzubekommen“, erklärt Thomas Raabe, Pressesprecher des Innensenats. Dann erst kann die Abschiebung beginnen. Ob Lan dabei sein wird? Niemand weiß es.

Insgesamt sieht der Vertrag noch in diesem Jahr eine Rückführung von 2.500 „Illegalen“ vor. „Eine vollkommen unrealistische Zahl“, so schätzt die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John. „Selbst wenn die Überprüfung zügig vorangeht. Namen auf eine Liste zu setzen ist ja noch einfach, danach aber tatsächlich die Leute auch zu finden, um sie ins Flugzeug zu setzen, wird wohl der schwierigste Teil der Aktion sein.“ MitarbeiterInnen der zahlreichen Hilfsorganisationen befürchten, daß es schon bald zu einer großangelegten Polizeiaktion kommen könnte. „Von Vorteil ist dabei sicher die jetzige Konzentration der VietnamesInnen in der Gehrenseestraße“, erklärt Bettina Grotewohl vom Verein für ausländische Mitbürgerinnen e.V. in Hohenschönhausen. Nach der fast abgeschlossenen Auflösung der Wohnheime in anderen Stadteilen leben hier fast 1.000 VietnamesInnen. Gleichzeitig könnte es zu einer undifferenzierten Abschiebung kommen, selbst von Leuten, die einen legalen Aufenthaltsstatus haben. „Denn sie sind die ersten, die greifbar sind. Ihre Identität ist bekannt, die Pässe liegen bei der Ausländerbehörde.“

Lan und viele ihrer Bekannten bereiten sich unterdessen auf die Illegalität vor. „Egal was passiert, ich gehe nicht zurück. Was soll ich auch dort? Keine Arbeit, keine Wohnung und das Geld, um die Schulden für die Flucht nach Deutschland zurückzuzahlen, habe ich noch lange nicht zusammen.“ Hinzu komme, daß „Republikflucht“, wie sie Lan begangen hat, in Vietnam strafrechtlich verfolgt wird. Die Behörden haben zwar zugesichert, daß die Rückkehrer deshalb nicht belangt werden, „aber wer weiß, ob sie mir nicht irgendeine andere Sache, wie Diebstahl oder ähnliches anhängen?“

Als Alternative zur Rückkehr ins Heimatland stehen zur Zeit Polen und die Tschechische Republik hoch im Kurs. „Das ist wenigstens nicht so weit weg und wir können von dortaus immer noch versuchen, zurückzukommen.“ Aber in diese Nachbarländer zu gelangen, ist nicht ganz einfach. Frau Thu vom Club „Asiaticus“ kann von vielen negativen Erfahrungen berichten. „Seit Anfang September stellt die tschechische Botschaft keine Einreisevisa für VietnamesInnen aus. Sie haben Angst, daß ihr Land jetzt überrannt wird.“

Inzwischen hat sich das kleine Zimmer von Lan gefüllt. Das gemeinsame Abendessen wird vorbereitet. Und während der Reis kocht und der Salat geschnitten wird, gibt es nur ein Gesprächsthema: die bevorstehende Abschiebung. Die fünfundzwanzigjährige Hoa zeigt stolz ihren Paß. Nach wochenlangem Warten ist es ihr gelungen, ein Einreisevisum für Ungarn zu erstehen. Hoa ist ehemalige DDR-Vertragsarbeiterin. Nach der Wende arbeitslos geworden, gelang es ihr nicht, eine sogenannte Aufenthaltsbefugnis zu bekommen. Um weiterhin Geld zu verdienen, handelte sie mit Zigaretten. Vor einem Jahr wurde sie dabei von der Polizei aufgegriffen. Und seitdem gilt sie als Straftäterin.

Um der drohenden Abschiebung zu entgehen, heiratete Hoa einen deutschen Mann. Doch auch das hilft ihr nicht, sie soll nach Vietnam zurück. „Die Rechtsanwältin hat mir gesagt, ich soll erst einmal ausreisen. Nach Holland, Frankreich, Polen, egal wohin, Hauptsache raus. Danach könnte ich versuchen bei der deutschen Botschaft ein neues Einreisevisum zu bekommen.“ Ihre Augen glänzen, sie ist optimistisch. Die anderen beglückwünschen Hoa, freuen sich mit ihr. Als sie wenig später für kurze Zeit das Zimmer verläßt, meint Lan: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich glaube nicht, da Hoa legal wieder nach Deutschland zurückkommen kann. Schon allein, weil sie hier mit Zigaretten gehandelt hat. Aber wer traut sich schon, ihr das zu sagen?“