Sitzen und Schweigen

■ Zen-Meister Stéphane Thibaut missioniert in Bremen: Rücken gerade, Kopf gerade, Kinn eingezogen, Hände auf den Unterbauch - und das persönliche Bewußtsein verlieren

Was ist Zen? „Sitzen und Schweigen“, meinte einst eine Freundin lapidar. Da widerspricht er nicht, der Zen-Meister Stéphane Thibaut (45), der 82. Patriarch im Zen-Stammbaum. Buddha habe erklärt, er werde sich nicht als erwacht sehen, ehe nicht jeder einzelne Grashalm errettet sei.

Stéphane Thibaut lebt in Amsterdam und betreut zwei große Sanghas (Zen-Gemeinschaften) in Südamerika und Europa, die einen eigenen Etat haben und ihm den Lebensunterhalt einbringen. Der Zen-Meister gehört zu den Soto-Patriarchen, die sich vom intellektuelleren Rinsai-Zen abgrenzen. Heute und morgen leitet er in Bremen eine Session.

taz: Sitzen und Schweigen, was steckt dahinter?

Stéphane Thibaut: Für mich ist Zen eine Begegnung mit dem tiefen menschlichen Wesen.

Was machen Sie denn mit den Leuten?

Man lehrt den Leuten die körperliche Haltung des Buddha. Das heißt, man übt „Zazen“, das ist die Haltung, die Buddha eingenommen hat, als er erleuchtet wurde. Sitzend im Lotussitz. Den Rücken gerade. Den Kopf gerade, das Kinn eingezogen. Die Hände gegen den Unterbauch. Die fünf Sinne nach innen gerichtet. Man atmet tief. Man bewegt sich nicht. Man gibt sein persönliches Bewußtsein auf.

Was ist Ihre Rolle dabei?

Ich übe mit den Leuten. Vielleicht wie ein Hirte mit seinen Schafen. Was macht ein Hirte? Nicht viel. Aber wenn er nicht da wäre, würden die Schafe aufgefressen. Der Meister muß die Kunst des Nicht-Handelns beherrschen.

Gibt's Hilfsmittel zum Leerwerden? Musik? „Ommm“-Summen?

Nein. Aber vom Zazen geht dann der Unterricht aus: Wo nichts ist, und jeder nur sich selbst wahrnimmt, von da aus kann man in die Welt des Zen eindringen. Dann kann der Meister alles machen. Manchmal sage ich: Stop! Massage! Und dann lehre ich die Leute, wie man Shiatsu-Massage macht. Manchmal spreche ich auch, ich kommentiere alte Texte, manchmal gebe ich ganz gezielt einen Ratschlag für den Alltag.

Zum Beispiel?

Es gibt keine Beispiele. Das ist die Kritik, die die Soto-Linie an der Rinsai-Linie hat. Im täglichen Leben passieren dauernd Dinge zwischen Meister und Schüler, man nennt sie „Koan“. Viele von den Koans sind historisch. Zum Beispiel: Ein Meister, ein Koch, ist beim Kochen. Ein Schüler fragt ihn: Was ist Buddha? Der Meister mißt gerade Sesam ab und sagt: Buddha ist dreihundert Gramm Sesam. Die Rinsais wiederholen ständig diese Geschehnisse, wie ein Theaterstück.

Im Soto sagt man, so etwas muß frisch sein. Jeder kreiert seine eigenen Koans. Man kann eine Bilderausstellung machen. Ich hab' zum Beispiel eine Rock-LP gemacht. Mit meinem Meister haben wir große Häuser gebaut. Obwohl wir gar nicht wußten, wie das geht.

Wollen Sie in Bremen auch Häuser bauen? Wozu die Session?

Das ist einfach eine Phase intensiver Übung. Man muß Zazen nicht den ganzen Tag machen. Zazen muß sich ins tägliche Leben integrieren. Man muß es regelmäßig üben bis zum Tod. Nach zwanzig oder dreißig Jahren Übung merkt man, daß man einen wirklichen Schatz erhalten hat. Aber das geht sehr langsam. Man sieht nichts.

Können Sie diesen Schatz beschreiben?

Ich würde sagen, man wird sich des Wertes und der Dimension des menschlichen Wesens bewußt. Denn Zen ist nichts anderes als ein menschliches Wesen. Das ist keine Religion, die auf einem hypothetischen Gott basiert. Man entdeckt die Magie und die Möglichkeiten des Menschseins. Man muß sich fragen: Was bin ich?

Schon sind wir bei kulturellen Unterschieden. Hat Europa sein eigenes Zen?

Der Ausdruck des Zen ist unterschiedlich, die Wurzel ist die gleiche. Wenn Europäer Zen ausdrücken, ist es europäisches Zen. Da gibt's natürlich unterschiedliche Dimensionen. Wenn ich sage, ich komme aus Bremen, mache ich also Zen aus Bremen mit seinen Eigenarten. Und so geht das weiter. Ich zum Beispiel, ich will in Europa arbeiten, um Europa zu beeinflussen. Aber ich lebe viel lieber in Lateinamerika, mag also das Zen dort lieber.

Sind Sie ein Missionar?

Ich hoffe, daß ich einer bin.

Es gibt auch Zen-Sekten.

Sekten sind eine menschliche Krankheit. Große Betriebe sind heutzutage Sekten. Mit einer Ideologie, in die man sich einfügen muß. Man muß sich heute mehr um seinen Betrieb kümmern als um die Familie. Zen-Sekten werden von Idioten gemacht, die sich abgrenzen und klein und ehrgeizig sind. Sie schotten sich ab, reden den ganzen Tag über Zen. Sie betrachten sich als die Besten, erniedrigen die anderen. Fragen: Silvia Plahl

Morgen bietet Stépane Thibaut einen Termin „Einführung und Mitmachen“ an. 10.30 Uhr, Aikido-Zentrum, Grundstr. 10. Infos zu Soto-Zen in Bremen Tel. 77623