: Ach wie romantisch!
Tuchfühlung mit deutschen Gemütsbeständen. Mit dem Fahrrad auf der Romantikroute — vom Main bis nach Neuschwanstein ■ Von Christel Burghoff
Ein strahlend schöner Sommertag. Ein halbes Dutzend Wespen will sich über meinen Pfirsich hermachen, und ich verjage sie. Kein Zweifel: Wir haben August. Irgendwie fliegen mich nicht bloß Wespen, sondern auch Weihnachtsstimmungen an. Innigkeit und Besinnlichkeit schummeln sich in diesen satten Sommertag – dank der vielen prall gefüllten Weihnachtstüten. Plastiktüten mit bunt geschmückten Tannenbäumen, mit Lichtlein auf den Tannenzipfeln und einem großen, grimmigen Nußknacker davor. Kleine Tüten, große Tüten. Menschen aller Nationalitäten tragen diese Tüten mit sich herum. Ach du Fröhliche! Das Christkind naht doch, völlig unzeitgemäß.
Mag sein, daß ich bloß angekommen bin. Dort, wo ich hinwollte: in Rothenburg ob der Tauber. Bislang bin ich nur geradelt. Zwei Tage lang, gute 100 Kilometer durchs „liebliche Taubertal“ (so war der Weg markiert). Immer herrliche Landschaft. Links und rechts Weinberge, kleine, altmodische Ortschaften, große Bauerngärten mit vielen blühenden Stauden. Die Tauber windet sich dekorativ durchs Tal. Ich habe es genossen, fernab vom Autoverkehr auf gut ausgebauten Radwegen durch diesen Sommer zu radeln. In Tauberbischofsheim trifft das „liebliche Taubertal“ auf die „Romantische Straße“. Diese Route kommt von Würzburg am Main. Rothenburg ob der Tauber, so steht es in den Prospekten, ist ihr „Herz“. Der Inbegriff für „deutsche Romantik“. Eigentlich logisch, daß dann in Rothenburg immer der 24. Dezember ist. Das Weihnachtswunder heißt Käthe Wohlfahrt. Ihr verwinkeltes, mittelalterliches Geschäftshaus beherbergt vom Keller bis unters Dach ein komplettes „Weihnachtsdorf“ – samt riesigem Weihnachtsbaum. Allüberall drapiertes Tannengrün, Tausende Lichtlein illuminieren, es glitzert und glänzt – selbst in Besucheraugen. 160.000 Weihnachtsartikel locken. Fast ein Ort der Andacht. Ein Österreicher ist fassungslos. „Es ist unglaublich, so was haben wir nicht mal bei uns“, meint er schließlich.
„Romantik“ wirkt auf Touristen wie ein Magnet. Nie habe ich – wie in Rothenburg – so viele japanische Touristen konzentriert auf einem deutschen Fleck vorgefunden, nirgends sonst japanisch geschriebene Hinweisschilder und Speisekarten gesehen. Auch ich bin baff von dieser Stadt: Sie ist eine bestens erhaltene Antiquität aus dem Mittelalter. Mit Häusern, Zinnen, Kirchen, Türmen samt der historischen Stadtmauer. Gut gepflegt, sauber gepflastert und geputzt und verziert mit Unmengen von Geranien. Daß deutsche Kleinstädte ihre verstreuten historischen Relikte überall zu „historischen Altstadtkernen“ hochgepäppelt haben, das kennt man ja. Doch hier stimmt das 16. Jahrhundert noch – zumindest äußerlich. Ob's im Mittelalter auch so behaglich zuging wie täglich unter Käthe Wohlfahrts Weihnachtsbaum? Bestimmt nicht.
Einige Risse im Kuschelszenarium fallen mir auf: Unterwegs, nahe Lauda-Königshofen, traf ich auf dem freien Feld einen leutseligen alten Mann. Ich rastete in der Sonne, und er erzählte von der letzten großen Schlacht der Fürsten gegen die Bauern. „6.000 Bauern wurden gemetzelt. Der Main soll sich vom Blut rot gefärbt haben. Wissen Sie, daß das hier war?“ Wußte ich nicht. Kein Denkmal weit und breit, geschweige denn ein Mahnmal für massakrierte Bauern. Aber ich konnte es einordnen: Bauernkriege, 16. Jahrhundert. Ein schauriges Kapitel aus der Vergangenheit. Soll ich es nun bei Tisch zum besten geben? Es könnte uns die gute Laune vermiesen. Wir bechern Frankenwein. Und meine Tischnachbarin im „Reichsküchenmeister“ ist ganz und gar auf Wohlfühlen eingestellt. „Zauberhaft“, so kommentiert die rothaarige, gutaussehende Fünfzigjährige ihre Impressionen: Kirche mit dem Riemenschneider-Altar, Reichsstadtmuseum, Bauernmuseum, Handwerkerhaus... „Ach ja, zuerst waren wir auf Stadtrundgang“, erinnert sie sich. Alles an einem Vormittag. Jetzt schnell noch ins Kriminalmuseum und ins Puppenmuseum, abends stehen die Hans-Sachs- Spiele auf dem Programm. Ihr Begleiter winkt ab: „Das Kriminalmuseum ist morgen dran!“ Und mich beschleicht der Verdacht, daß es zwischen Puppenstuben und den Folterinstrumenten des Mittelalters doch Unterschiede gibt. Folter tut schließlich weh.
Und Barbarei weckt böse Erinnerungen. Also übergehe ich auch den Deutschen Orden, über den ich in Bad Mergentheim geradezu gestolpert bin. Kein weiterer Gedanke mehr über das Ordensmotto „Vernichtung oder Taufe“! Oder die Einzelheiten der „Ostbesiedelung“, wie es heute harmlos und leicht genießbar heißt – als wären solche martialischen Kreuzzüge ein solider bürgerlicher Vorgang. Prachtvoll restauriert demonstriert die Mergentheimer Hochmeisterresidenz des Ordens nur noch eines: eine deutsche Kulturleistung ersten Ranges.
Hier stellt man schlicht fest, daß selbst Jahrhunderte später die Rechnung der mittelalterlichen Machthaber noch aufgeht. Egal, was sie verbrochen haben – sie stehen jederzeit und überall tadellos da! In Glanz und Gloria. Schlösser, Burgen, Dome und Häuser sind attraktiver als je zuvor.
Die Romantische Straße liefert dafür reichlich Anschauungsmaterial. Sie ist immerhin 400 Kilometer lang. Nach Rothenburg kommt Dinkelsbühl, auch eine mittelalterliche Stadt. Und noch mittelalterlicher: Denn kein moderner Schriftzug stört das geschönte Stadtbild. Jeder Laden, jedes Hotel, jede Gaststätte, jede öffentliche Einrichtung benutzt altdeutsche Frakturschriften. Sie sind auf Hauswände gemalt. Und das gilt sogar für den italienischen Eissalon am Platz. Würde der Maler Carl Spitzweg heute wiedergeboren, mitten hinein in seine biedermeierlichen Inspirationen – er könnte einfach weitermalen. Stimmungsszenarien zum gefahrlosen Wegtauchen: beispielsweise Ausflügler im exzessiven Freizeitlook oder Radler im rein sportiven Outfit, bildungsbeflissene Einzelgänger oder internationale Großgruppen, die kostümierten Nachtwächtern hinterherhasten im Verkehrsgedrängel zwischen Opel Manta und Pferdedroschke.
Nördlingen, Harburg, Donauwörth, Augsburg, Landsberg, Schongau sind weitere Stationen. Die Tour durch deutsche Highlights endet in Füssen. Bis dahin pendelt man zwischen den Daten und Zahlen aus den Jahrhunderten und den Gestalt und Kunst gewordenen Phantasien der mittelalterlichen Personalbesetzungen: Sei's in der Atmosphäre entrückter Heiligkeit oder inmitten weltlicher, barocker Schönheit, sei' s im direkten Dunstkreis der Macht oder im Biedermeier von Bürgeridyllen. Ein Kleinod aus fernen Zeiten folgt auf das nächste. Fasziniert von den gelungenen Werken der Baumeister und ihrer Instandsetzer sammelt man und sammelt, und zum Schluß ist der Kopf vollgestellt wie ein Setzkasten. Randvoll mit kleinen Idolen – vom Heiligenbildchen angefangen bis hin zur sauberen Umwelt. „No Pollution!“ heißt es für meine ausschließlich japanisch und englisch sprechende Besuchergruppe in Dinkelsbühl, „the river Wörnitz looks dirty, but it is cleaner than every pool.“ Gibt es das auch noch? Aber selbstverständlich! Denn Dinkelsbühl soll das einzige deutsche Flußfreibad haben. Es wird in der Tat das Letzte dieser Art sein.
Über die Frankenhöhe, durch das Tal der Wörnitz und den großen, flachen Krater des Nördlinger Rieses geht es der Donau zu. Die Romantische Straße wurde natürlich als Ferienstraße für den Autotourismus konzipiert. Der markierte Radwanderweg berührt diese Straße selten. Er führt über kaum befahrene Seitenstraßen beziehungsweise über geteerte Landwirtschaftswege; Schotterwege sind die Ausnahme. Man kann radeln, radeln, radeln...
Längst denke ich nicht mehr darüber nach, warum ich eines Tages die alten Möbel samt den Setzkästen ausrangiert habe. Diese Frage hat mich seit Rothenburg beunruhigt. Doch mir fällt die Antwort einfach nicht mehr ein. Irgendwann komme ich im Süden an. Ein Bild prägt sich ein: schlammig-türkisfarbener Lech, hügelige Landschaft, grasgrün und zentimeterkurz wie Golfgrounds, schwarz- bunte Kühe mit Glocken, die bimmeln, kleine weiße Kirchen mitten in der Landschaft, gemalte Häuser, Bergpanorama und ohne Ende Sonnenschein. Kurz gesagt: Bilderbuchkitsch. Es ist das Alpenvorland, und das Finale naht. Kurz vor dem Höhepunkt steht noch die „Wieskirche“ auf dem Programm. Samt einem konzentrierten Ansturm von Bussen und Pkws und stinkenden Abgasen auf diesen sonst stillen „Pfaffenwinkel“. Denn alle Touristen sind wieder da. Und zusätzlich reisen Wallfahrer an – in das vergoldete und tanzende Himmelreich der „Wies“. Es ist die Welt des Überflusses, der Putten und des Rokoko. Mit jenseitigen, lebensgroßen Kirchenvätern, die wie auf Watte schweben. Mit jungen und attraktiven Frauen, beim Tänzchen vereint mit dem Gekreuzigten oder beim Tête-à-tête mit seinem vergoldeten Totenschädel. Die Unesco zählt die Wallfahrtskirche zum Kulturerbe der Menschheit.
Doch was sind die Träume eines fast vergessenen Baumeisters gegen die Phantasien eines unsagbar
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populären Königs? Ludwigs Neuschwanstein ist das definitive Highlight. Volle zwei Stunden Anstehen ist jetzt angesagt – für 25 Minuten Führung durch Ludwigs Märchenschloß. Als es endlich soweit ist, hasten wir im Schnelldurchgang durch Räume und Wagner- Phantasien, imaginäre Opern im Ohr und deutsche Mythen im Sinn. Alle fünf Minuten schieben sich mindestens 60 neue Besucher hinter uns her. Wer hier kein harter Ludwig-Fan ist, der ist schnell gefrustet. „Ist ja wie in ,Phantasialand‘“, mault ein Teenager. Und der Vater unterstützt seine Tochter: „Ich sag's ja: Linderhof ist schöner!“ Im Gedrängel der Gruppen und Pulks vor den Andenkenläden holt einen schnell die Wirklichkeit wieder ein. Ganz klar: Neuschwanstein ist perfekt organisierter Massentourismus, nichts sonst.
Heute früh prophezeit der Bayerische Rundfunk das Ende dieses Sommers. Das nachmittägliche Gewitter soll in Dauerregen übergehen. Und kalt soll es werden. „Schau nicht so depressiv drein!“ raunzt mich meine neue Freundin Heidi an. Und lädt mich dann ein: „Trink doch was mit mir!“ Campingplätze werden leicht zu Alkoholfallen. Besonders dann, wenn es regnet, kann der Weg von der Kneipe zum nassen Zelt meilenweit werden. Wir sitzen abends zwischen anderen Campern dicht gedrängt auf einer einzigen Bank – der letzten im Biergarten, die noch einigermaßen im Trockenen steht. „Sieh mal“, drängt Heidi, „es ist doch sooo romantisch, hier zusammen bei Regen zu sitzen...“ Endlich die entscheidenden Worte! Heidi spricht sie aus. Und vielleicht ist es das ja: abseits und im Trockenen sitzen – uns geht es gut.
Die Fahrradroute „Romantische Straße“ ist ausgeschildert.
Im Buchhandel gibt es zusätzliche Radwanderführer.
Über alles weitere informiert: Touristik-Arbeitsgemeinschaft Romantische Straße, Marktplatz, 91550 Dinkelsbühl, Tel.: 098511-90 271.
Tip: Seit diesem Jahr transportiert ein Europabus der Deutschen Touring auch Fahrräder auf der „Romantischen Straße“; er verkehrt täglich (1.4. bis zum 31.10.) nach Fahrplan; Endstationen sind Frankfurt, München, Füssen.
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