Vom Glück des Duschens

Flucht aus der Sozialstaatshölle: Peter Høegs Roman über Leiden und Wirren eines Waisenkinds  ■ Von Jörg Lau

Wer dieses Buch bis zur Seite 259 liest – und wer einmal angefangen hat, wird es kaum vorher aus der Hand legen –, dem steht eine harte Probe bevor. Hier wartet nämlich der Autor, um den Leser zu stellen: kein Zweifel, die Geschichte des Ich- Erzählers Peter sollen wir als die Geschichte Peter Høegs lesen.

Das war schon zu ahnen. Viele Details der Handlung wiesen in diese Richtung, und der Verlag hat es für richtig gehalten, uns vorzubereiten: es handle sich bei vorliegendem Buch unter anderem auch um eine „autobiographische Bewältigung“. Aber bekanntermaßen sind die gierigen Leser von Romanen keine Authentizitätsfetischisten und keine Anhänger von Reinheitsgeboten. Ganz egal, welche Ressourcen ein Autor plündert – ob Einbildungskraft oder Zwangsneurose, ob Erinnerung, Dokument, Mythos oder Genremuster –, solange die Geschichte berührt, ist es uns ziemlich egal, aus welchen möglicherweise trüben Quellen der Autor seinen Stoff bezieht.

Ein gefährlicher literarischer Trick

Peter Høeg möchte sich mit solchem Interesse nicht bescheiden. Wir sollen nicht nur ahnen, daß die Geschichte von Peter, Katharina und August mit einer Menge autobiograhischen Materials gebaut ist. Wir sollen uns klarmachen: das Waisenkind Peter, das uns die Geschichte bis hierhin erzählt hat, wurde zu Peter Høeg, „als Karen und Erik Høeg mich 1973 fanden und adoptierten, am Sandbjerggard, als ich fünfzehn Jahre alt war, wofür ich ihnen ewig dankbar sein werde“.

Dieser exhibitionistische Akt ist ein äußerst riskanter literarischer Trick. Die erste Regung des Lesers wird Mitleid sein. Niemandem möchte man wünschen, Grausamkeiten erleben zu müssen, wie sie jenem „Peter“ in dem Biehlschen Internat beschieden sind. Allerdings kann solche Empathie auch in Ablehnung umschlagen. Zwar sind Romanleser in der Regel nicht abgeneigt, sich durch mitleiderregende Geschichten sittlich vervollkommnen zu lassen. Allerdings möchten sie zu ihren Einsichten vom Erzähler verführt werden, und dabei ist schon der leiseste Versuch der moralischen Erpressung geeignet, den Bann zu brechen. Als solchen Versuch muß man Høegs Identifikation mit seinem Ich-Erzähler empfinden. Er hätte darauf verzichten sollen. Erstaunlicherweise verträgt das Buch diesen Fehlgriff. Es scheitert an einem anderen.

Der Traum, eine Familie zu bilden

Biehls Privatschule ist für den zwölfjährigen Peter eigentlich „eine Belohnung nach dem dritten Vergewaltigungsversuch, wobei nicht ich die Vergewaltigung versucht hatte, sondern sie an mir versucht worden war.“ Dies geschah an der „Brotkantenschule“, einer Erziehungsanstalt für verhaltensgestörte Kinder, wo Peter zuvor aufbewahrt worden war. Er hatte da bereits eine Karriere in verschiedenen Institutionen sozialstaatlicher Fürsorge absolviert, vom Säuglingsheim wurde er an ein Kinderheim weitergereicht, dann ans „Beobachtungsheim“, Kinderinternat und Jugendheim. Peter beschreibt das vollbetreute Leben als Waisenkind unter ständiger psychologischer Beobachtung und Evaluierung durch Intelligenztests einmal treffend als eine Bewegung „im Tunnel“.

In der Biehlschen Privatschule ist er erstmals mit „normalen“ Kindern zusammen, aber auch hier regieren sadistische Lehrer nach einem strengen, undurchschaubaren Reglement. Die in Bewegung geratenen Drüsen der pubertierenden Schüler tun das Ihre, um das Klima mit juveniler Verwirrung und latenter Gewalt anzuheizen. Ein Mitschüler, Sohn eines Lehrers, wird eines Tages mit zerschnittener Zunge gefunden, eine Selbstverstümmelung. Schlafstörungen, Magersucht, Sellbstmordversuche und was noch alles zum Panorama seelischer Entzugserscheinungen gehört – das ist die Innenseite der sich nach außen philantropisch gebenden Welt, in der dieser jugendliche Held überleben muß.

Man müßte von beängstigend robuster Konstitution sein, um sich von diesem Schicksal nicht anrühren zu lassen. Daß man die Geschichte zudem noch gerne liest, kommt von der völligen Abwesenheit des Sozialkitsches, zu dem solcher Stoff Anlaß genug böte. Peter Høeg hat nämlich nach „Fräulein Smilla“, seinem Welterfolg vom vorigen Jahr, einen weiteren Thriller geschrieben. Die Konstruktion ist denkbar einfach: Peter lernt im Internat die sechzehnjährige Katarina kennen, auch sie eine Waise. Er verliebt sich in sie. Beide nehmen sich des kleinen August an, eines verhaltensgestörten Kindes mit stark autodestruktiven Zügen. Bald ist der Plan gefaßt, der zerstörerischen Fürsorge zu entfliehen, um August zu retten und draußen jene Familie zu bilden, die alle drei vermissen. Das Wissen, daß dieser Tagtraum nicht Wirklichkeit werden kann, hat der Leser dem jugendlichen Ich-Erzähler voraus. Gerade dadurch bekommen die listigen Versuche der drei, das pädagogisch-therapeutische System zu schlagen, die Spannung einer Flucht von Alcatraz.

Die Schule als Zeitmaschine

Peter Høegs Roman ist neben der Geschichte einer abenteuerlichen Flucht eine Erzählung von den Rites de passage, von den Übergangsritualen an der Schwelle des Erwachsenenlebens, die wir alle durchlaufen, die sich aber anhand von Außenseitern besonders dramatisch erzählen lassen. Und schließlich läßt er sich als eine Parabel der pädagogischen Macht lesen. In der Biehlschen Anstalt wirken Lehrer und Psychologen zum Wohl ihrer Schützlinge; hier glaubt man an die unendliche Perfektionierbarkeit des Menschen durch Bildung und Aufklärung. Allerdings hat die Aufklärung, an die man hier glaubt, auf gespenstische Weise vor sich selber haltgemacht. Der grundhumane Glaubenssatz, daß alle die gleichen Chancen haben sollen, ist hier zur Legitimation für eine autoritäre Welt der Totalbetreuung geworden, in der Ausnahmen nicht vorgesehen sind. Daß sich jemand der guten pädagogischen Macht des Überwachens, Bestrafens, Überzeugens und Prüfens könnte entziehen wollen, ist in dieser Welt ein undenkbarer Gedanke. Man hat es bei dem Biehlschen Internat mit einer jener totalen sozialen Institutionen zu tun, wie sie von Machttheoretikern wie Michel Foucault und Erving Goffman untersucht worden sind. Aber man sieht sie von innen und aus der Perspektive der kleinen verwalteten Menschen, zu deren Wohl sie angeblich eingerichtet worden sind.

Und dann ist da noch die Sache mit der Zeit. Peter Høeg hat seinen Roman mit langen essayistischen Exkursen über das Wesen der Zeit gespickt. Er hat sich kundig gemacht, was die Philosophen über lineare und zyklische Zeit herausgefunden haben, was die Biologen über unsere körperlichen Zeitrhythmen und was die Sozialhistoriker über die Synchronisation der vielen Zeitzonen zu einer Weltzeit wissen. Die Schule mit ihrem rigiden Zeitregiment wird am Ende zur Allegorie „einer naturwissenschaftlichen Entwicklung von dreihundert Jahren. An diesem Ort war nur die lineare Zeit zugelassen, Leben und Unterricht an der Schule waren in völliger Übereinstimmung damit organisiert. Die Schulgebäude, die Umgebung, die Lehrer, die Schüler, die Küchen, die Pflanzen und der Alltag waren eine bewegliche Maschine, ein Symbol der linearen Zeit.“

Der Roman nimmt sich gegen Ende zunehmend Zeit für die Frage nach dem Wesen der Zeit: „Um die Zeit wahrzunehmen und von ihr zu sprechen, muß man merken, daß sich etwas verändert hat. Und man muß merken, daß es in oder hinter dieser Veränderung etwas gibt, was auch vorher da war. Die Zeitwahrnehmung ist die unerklärliche Vereinigung von Verwandlung und Unveränderlichkeit innerhalb des Bewußtseins.“ Ich muß gestehen, daß mir für solch gründelnde Grübeleien meine Zeit zu schade ist.

Der Kuß als schwarzes Loch der Zeit

Einige Rezensenten konnten zwar angesichts der Høegschen Zeitphilosophie ihre Langeweile – auch dies bekanntlich eine interessante Art der Zeitwahrnehmung – kaum verbergen. Aber da ihnen der Rest des Buchs gefiel, gingen sie in die Offensive und proklamierten es zu einem „Roman über die Zeit“. Das klingt gut, ist aber wohl eher eine kostbare Trivialität wie die Rede über jene „Filme über das Sehen“ und „der Stille abgerungene Musik“, die wir Feuilletonisten so gerne führen: Da jeder Roman gelesen werden will und also einen Teil meiner Lebenszeit für sich reklamiert, um von einem virtuellen Ding zu meiner ästhetischen Erfahrung zu werden, ist auch jeder Roman irgendwie ein Roman über die Zeit.

Dieser hier ist es in seinen besten Passagen, und dazu zählen nicht die unmittelbar zeitphilosophischen. Zu seinen schönsten Entdeckungen rechne ich die, daß Küsse gewissermaßen schwarze Löcher der Zeit sind. Peter gewinnt diese Erkenntnis, als er es endlich geschafft hat, mit Katarina allein zu sein. Ihr Kuß „ließ die Zeit verschwinden.“

Und schließlich, man möge das nicht für eine Kleinigkeit halten, hat meines Wissens noch niemand so präzise das Glück des Duschens beschrieben wie dieser kleine Peter, für den es sich anfühlt „wie nach Hause kommen“, wenn er unter dem Wasserstrahl steht – auch dies eine Zeitmaschine.

Am Ende, nach mehr und mehr zeittheoretischen Exkursen, überwiegt allerdings die Erleichterung, daß Peter Høeg der sozialstaatlichen Hölle entkommen ist, das Vergnügen an dem Roman, den er ihr abgetrotzt hat.

Peter Høeg: „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“. Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach. Roman. Carl Hanser Verlag, 290 Seiten, geb., 39,80 DM