Wenn Angst zur Sucht wird

■ Per In-Line-Skating: zum Kick ganz ohne Drogen. Rollende Überwindung der Angst

Vergessen Sie Rollschuhe. Vergessen Sie Ihre ersten zaghaften Versuche mit diesem metallenen Schlüpf-rein-Gestell, und wie Sie sich aus Verzweiflung bei Tempo 30 um das nächste Verkehrsschild gewickelt haben, um nicht hilflos auf die Hauptverkehrsstraße zu rollen. Sowas heißt heutzutage nämlich ,Bail out', ja, beim ,Kicking some asphalt' passiert das schon mal, und als angehender ,Roller dude' bzw. angehende ,Roller dudette' solltest du wenigstens das ,Ride on the grass' beherrschen: „Laß dich einfach von der Straße auf ein Rasenstück rollen – dann ausrollen lassen, bis du von selbst zum Stehen kommst“ – so steht's im „In-Line-Skating-Guide“. Und wenn da nirgends Gras...

Das Verlangen des Körpers, sich per Hilfsmittel schneller zu bewegen, als er es von sich aus könnte, erwacht in jedem Menschen bereits in jungen Jahren. Anfangs geschieht dies meist auf unmittelbar mit dem Körper verbundenen rollenden Gegenständen. Wie die aussehen, diktieren Zeitgeist und Erfindungsreichtum von Marketingstrategen und Herstellern: Waren es vor Jahrzehnten noch die guten alten Rollschuhe, wurden die abgelöst von Rollerskates (mit Gummirollen und Stopper vorne); die wiederum sind gnadenlos out seit Erfindung des Skateboards. Momentan absolut hip: In-Lines. Das sind quasi Schlittschuhe auf Rollen, denn – neu, neu, neu: die vier Rollen sind hintereinander statt nebeneinander angeordnet.

„Du rollst echt fast ohne Widerstand dahin!“ schwärmt O.J.L.K., einer der handvoll In-Line-Profis in Deutschland. Mit bürgerlichem Namen heißt der 27jährige übrigens Klaus Langenickel, was natürlich absolut uncool ist. Cool hingegen sind ,Styles', die sich die Skater ausdenken: cool über Autos hüpfen, cool die akrobatischsten Verrenkungen in der Luft vollbringen, coll in der Halfpipe hin und her sausen, cool auf die Fresse fliegen. „In der Halfpipe haste erstmal Panik im Hintern – aber aus der Angst wird –ne Sucht!“ sagt Oujeyelkay. Trefflich findet sich in dieser Beschreibung das wieder, was uns als „Philosophie“ von Dingen wie Bungee-Jumping, Free-Climbing und ähnlichem Extremkram verkauft wird. „Bevor ich irgendeine Droge nehme, versuche ich mich mit Adrenalin hochzupumpen“, so O.J.L.K.. Und in der Halfpipe, wo die Cracks bereits Zweifach-Salti (flips) und zweieinhalbfache Drehungen ((McTwist) in der Luft vollführen und es anschließend bis zu fünf Meter im freien Fall wieder abwärts geht, ist für jede Menge Adrenalinausstoß gesorgt: „Da kann jeder Sprung der letzte sein...“

Angefangen haben aber alle mal wie Kati (5): Die geriet am Dienstag mit ihrer Oma zufällig am Nordseestadion in Bremerhaven auf die „Fanta-Rollerblade-Tour 95“. Und hatte Durst. Die Dame am Getränkestand aber konstatierte: „Hier kriegen nur die was zu trinken, die die In-Line-Skates – kostenlos! – ausprobiert haben.“ Schwupps ist Oma davon überzeugt, daß das auch was für die ganz Kleinen ist, und Kati hat die Dinger der Firma Rollerblade an den Füßen und stakst unsicher an Omas Hand über den Platz. Dafür gibt's Fanta. So funktioniert Promotion, alles voll trendy eben – und cool. Wer Feuer fängt, landet tags darauf im Laden und muß für die In-Liner 200 Mark aufwärts berappen, die Kleinen sind „schon“ ab 150 Mark dabei.

Während im Hintergrund bereits das In-Line-Hockey-Turnier in vollem Gange ist, malträtieren Kim, Lars und Oliver ihre Knochen und die Spine, eine besondere Art von Rampe für den besonderen Kick. Die In-Line-Skater-Scene in Bremerhaven besteht aus diesen dreien und einer weiteren Handvoll Jungs – sie machen die Fußgängerzonen unsicher und träumen von den klasse Skate-Hallen „in jedem Kuhdorf“, bloß hier gibt's sowas nicht.

In Bremen trifft sich die Scene am Schlachthof, und das große Abenteuer führt nach Lausanne, wo jährlich der größte In-Line-Skater-Contest Europas steigt. In den USA haben sich bereits 18 Millionen vom In-Line-Fieber – sorry, -fever – anstecken lassen, hierzulande geht der Boom jetzt erst richtig los. Aber wohl nicht aus Zufall liegt das Mekka für den gemeinen Skater ganz nah: in den Niederlanden nämlich. Beruft sich die neue Rollmode doch auf eine Tradition aus dem 18. Jahrhundert, wo schlittschuhbegeisterte Holländer erstmals hölzerne Rollen auf Holzleisten genagelt haben (hintereinander!), um auch im Sommer dem „Eis“laufen frönen zu können. Schutzausrüstung nicht vergessen! ,Skate smart' heißt das Motto und ist letztlich das der 90er: Tu dir und anderen nicht weh. Beachte die Regeln. Und hab' Fun. skai