piwik no script img

Die Trampel mit dem Trecker kommen

Obwohl der Tabellenführer nicht vom Titel redet: Mit dem 23:23 beim Meister THW Kiel etabliert sich die SG Flensburg-Handewitt als gleichberechtigte Spitzenkraft des deutschen Handballs  ■ Aus Kiel Clemens Gerlach

An den Frühsommer 1993 kann sich Dierk Schmäschke noch immer ganz genau erinnern. Ziemlich schlecht sah es damals für die SG Flensburg-Handewitt aus. „Eigentlich waren wir schon abgestiegen“, blickt der Geschäftsführer zurück. Sportlich erledigt, weil die Mannschaft wegen des schlechteren Torverhältnisses den rettenden 15. Tabellenplatz in der Bundesliga verpaßt hatte. Im Geiste sah man sich schon wieder gegen die TSV Altenholz oder HSG Tarp-Wanderup spielen. Wer konnte auch ahnen, daß jener „Glücksfall“ tatsächlich eintreten sollte, auf den niemand zu hoffen gewagt hatte: Der TSV Milbertshofen mußte Konkurs anmelden, die SG war wieder erstklassig.

Wer auch immer, einer meinte es bald darauf noch besser mit der Spielgemeinschaft, zu der 1990 der TSB Flensburg und der Handewitter SV fusioniert waren. Jan Holpert, bei den zwangsabgestiegenen Bayern zum Nationaltorwart gereift, ließ sich überreden, in seine Heimatstadt zurückzukehren. „Riesenbedeutung“ habe das gehabt, sagt Trainer Anders Dahl- Nielsen. Auch andere Spieler fanden plötzlich Gefallen am wiederauferstandenen Bundesligisten vom „Rande Deutschlands“ (Schmäschke): Spielmacher Markus Hochhaus kam gleichzeitig mit Holpert, ein Jahr später folgte National-Kreisläufer Matthias Hahn aus Hameln.

Vor dieser Saison gelang mit der Verpflichtung von Auswahlspieler Jan Fegter, ebenfalls von der SG Hameln, der ganz große Wurf. „Wir gehören inzwischen zu den ersten Adressen in Deutschland“, bemerkt Abteilungsleiter Sönke Voß nicht ohne Stolz. Niemand wird ihm ernsthaft widersprechen wollen. Selbst nicht die direkte Konkurrenz vom THW Kiel. Der amtierende deutsche Meister hat feststellen müssen, daß mit den Nachbarn nicht zu spaßen ist, der sich in der vergangenen Serie erstmalig für einen Europapokal- Wettbewerb qualifizieren konnte. Jahrzehntelang galten die Flensburger als Kloppertruppe vom ganz hohen Norden, als die Bauerntrampel vom Dorf, die nicht nur von den hochnäsigen Landeshauptstädtern belächelt wurden. „Mit wie vielen Treckern kommen sie wohl diesmal vorgefahren?“, hieß es stets, wenn wieder ein Gastspiel in der Kieler Ostseehalle anstand.

Doch der Spott ist nun echtem Respekt gewichen. Spätestens nach dem 23:23 am Mittwoch abend, als der THW nur mit viel Glück einer Niederlage entging. Flensburg behielt die Tabellenführung, jetzt muß Kiel, zwei Punkte zurück, sich strecken – eine ungewohnte Rolle für die Erfolgsverwöhnten. Der Geheimfavorit auf die Meisterschaft ist inzwischen so stark und selbstbewußt, daß selbst der Ausfall des grippekranken Holpert kein Hindernis war, um nach etlichen vergeblichen Anläufen endlich einmal einen Punkt mitnehmen zu können.

„Wir tasten uns ran“, formuliert Dierk Schmäschke betont vorsichtig. Zum Abheben neigt man bei der SG nicht, auch wenn Komplimente inzwischen an der Tagesordnung sind. Kiels Meistertrainer Zvonimir Serdarusic hält Holpert für den „stärksten Torwart Deutschlands“. Einen wie Jan Eiberg Jörgensen (25), 63facher dänischer Nationalspieler und letzte Saison viertbester Bundesliga- Torschütze, könnte er selber gut im Rückraum gebrauchen: „Weltklasse“ sei der.

Nie habe Flensburg ein besseres Team gehabt, sagt er. Und Noka muß es wissen: Bis Anfang 1993 war er dort selber Trainer, ehe er mitten in der laufenden Spielzeit vom THW abgeworben wurde. So etwas ist heute undenkbar. Sein Nachfolger Anders Dahl-Nielsen fing mit dem vorhandenen Kader ganz von vorne an. „Wir müssen spielerisch besser werden“, forderte der ehemalige dänische Nationaltrainer ein Ende der technikarmen Kraftmeierei. Die Spieler zeigten sich lernfähig für die skandinavische Schule, obwohl „man nicht alles auf deutsche Verhältnisse umsetzen kann“.

Peu à peu verstärkte Dahl-Nielsen das Team, holte sich seine „Wunschspieler“. Fegter, am Mittwoch bester Werfer mit acht Toren, soll der vorerst letzte sein. „Auf Teufel komm raus verpflichten wir keine neuen Leute“, vertritt auch Schmäschke die Philosophie des ruhigen Weges, „sie müssen schon zu uns passen.“ Die Meisterschaft hat der neue Spitzenverein nicht auf der Rechnung – noch nicht. „In ein, zwei Jahren soll es soweit sein“, sagt Dahl-Nielsen. Von einem Machtwechsel will er nichts wissen. Daß man jetzt vor dem THW stehe, sei ganz schön, aber wichtiger ist, „daß wir guten Handball spielen“.

Mehr als das: Die gerade erst gegründete Bundesliga GmbH arbeitet erfolgreich, der Zuschauerschnitt ist – nach dem THW – der zweitbeste, und der eigene Nachwuchs spielt in der zweiten Liga. In das Europacup-Spiel gegen SKAF Minsk am Samstag geht man mit gesundem Selbstvertrauen.

Sieht aus, als würde es womöglich schneller mit einem Titel klappen als beim schleswig-holsteinischen Konkurrenten. Die Kieler nämlich mußten immerhin 30 Jahre auf die deutsche Meisterschaft warten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen