Zwischen den Rillen
: Hoffnungsvoll hysterisch

■ Das hat man nicht erwartet: Russischer Artcore, nicht ganz westgebunden

Die derzeit in den Vereinigten Staaten geführte Auseinandersetzung mit den Seventies – für die verspäteten amerikanischen Kids das Jahrzehnt der sexuellen Freizügigkeit – ist im deutschsprachigen Popraum unergiebig geblieben.

Hierzulande hat man offensichtlich mit ganz anderen Problemen zu kämpfen: In der „Neuen Hamburger Schule“ um Jochen Distelmeyer etwa bemüht man sich schon seit längerem, endlich den hauseigenen Dämon Heinz Rudolf Kunze zu überwinden – bislang vergeblich.

Eine hilfreiche Anleitung zum Verfassen surrealer, assoziativer Lyrik könnte dabei eine werkgetreue Übersetzung der Texte von Auktyon bieten, der derzeit vielversprechendsten Band aus Sankt Petersburg:

„Am hellichten Tage kamen mir die Ohren abhanden

ich fühlte mich wie ein Truthahn oder eine Eule

Dann waren plötzlich auch Mund und Hände verschwunden und meine Hose flatterte davon

Von mir blieb nur ein Stummel übrig

ein Klumpen abgespülter Seife.“

Die deutliche Anlehnung an die absurde, melancholische Komik Daniil Charms' ist programmatisch, gebärdet sich der schlacksige front actor von Auktyon, Oleg Garkusha, bei Konzerten doch wie ein zu Fleisch gewordener Charakter aus einem der absurden Minidramen des Sankt Petersburger Dichters.

Ende der achtziger Jahre als Gesamtkunstwerk aus postsozialistischem Punk und surrealem Theater entstanden, hat sich bei der neunköpfigen Band das Gewicht zu Gunsten der Musik verschoben.

Mit Erfolg: Zumindest im Osten Berlins scheinen sie vom ehemaligen Geheimtip der Slawisten zu jedermanns Lieblings- Liveact zu avancieren. Ihr klappriger Tourbus steht im regelmäßigen Turnus alle paar Monate irgendwo zwischen Oranienburger Straße und Rosenthaler Platz.

Waren ihre Platten hierzulande bisher lediglich als Direktimport über die Band selbst erhältlich, so hat sich jetzt endlich ein kleines deutsches Label ihres Backkataloges angenommen.

Beim Hamburger KCE-Label ist gerade ihr 94er Album „Ptiza“ (Vogel) erschienen. Wer des Russischen nicht mächtig ist, verhält sich am besten wie der Zuschauer eines fremdsprachigen O-Ton-Films und verläßt sich ganz auf die Bilder, oder in diesem Fall eben die Klänge. Da ist zunächst die faszinierend helle Stimme Lonja Fjoderows, der klingt, als würde er unentwegt schelmisch lächeln – aber auf eine hysterische Art, die vor allzu großer Hoffnungslosigkeit schützen soll. Die Musik ist sehr tanzbar, die ungewöhnlichen Harmonien russischer Folklore verbinden sich mit Klezmer-Rhythmen und Jazz, was Kritiker zu der Etikettierung einlud, es handle sich um die russischen Negresses Vertes.

Die akustischen Instrumente dominieren, keine verzerrten Gitarren klingeln im Ohr und einmal gibt es sogar absolute Stille zu hören. Die kunstvoll arrangierten Songs bleiben trotz aller Ausuferungen rund und organisch. Sie strahlen eine Selbstverständlichkeit aus, als handle es sich dabei um von Generation zu Generation weitergegebene Volkslieder.

Mehr den westlichen Einflüssen zugeneigt zeigen sich dagegen die russischen Ne Zhdali (Nje Schdali) aus Tallinn, Estland. In ihrer Musik sind Anleihen beim Noise-Jazzer John Zorn und dem Experimentalisten Fred Frith hörbar, dessen label mate sie mittlerweile auch geworden sind.

Im Westen erscheinen ihre CDs konsequenterweise gleich mit englischem Titel. So firmiert ihr neuestes Werk „Wosduch – Semlja“ (Luft – Erde) bei uns unter dem fetzigen Titel „What ever happens, twist!“ Kein unpassender Titel, denn eine Art hardcorejazztwist prägt die meisten Stücke, allerdings mit so vielen Brüchen und aufgestellten Fallgruben, daß ein fescher Hüftschwenker leicht ins Leere laufen kann.

Recht bewußt werden hier Kompositionen zerstört, Songs geschlachtet. Ne Zhdali kokettieren ein wenig mit dieser Art des Hackbrettarrangements: Nicht umsonst läßt sich der Bandname mit „Das hat man nicht erwartet“ übersetzen. Sie selbst bezeichnen ihren Sound als „Surf-Music“ – allerdings sollte man sich dabei lieber das Surfen auf einer Herde trampelnder Rhinozerosse vorstellen oder auf den Wellen der Sintflut.

Weil musikalisch so wenig einzuordnen, spielen Ne Zhdali in Punk-Klubs wie auf Jazzfestivals; in Deutschland waren sie in diesem Jahr die Überraschung auf dem ansonsten eher unspektakulären Festival in Moers.

Ähnlich wie bei Auktyon liegen die Ursprünge von Ne Zhdali beim Theater – die fünf Musiker stellten jahrelang die Hausband des Staatstheaters in Tallinn – und genau wie ihre Freunde aus Sankt Petersburg sind sie die Kinder einer Perestroika, die in Rußland heute fast jedermann als amerikanische Verschwörung deutet. Noäl Rademacher

Auktyon: „Ptiza“, erhältlich über: KCE, Postfach 630436, 22314 Hamburg

Ne Zhdali: „What ever happens, twist!“, RecRec Music, EFA Vertrieb