Noch kein Lebenszeichen von Wei Jingsheng

■ Chinas prominentester Dissident bleibt nach Festnahme verschwunden / Widersprüchliche Erklärungen der Pekinger Regierung über seinen Verbleib

Berlin (taz) – Seit über achtzehn Monaten ist der chinesische Dissident Wei Jingsheng verschwunden. Seit er von der chinesischen Polizei am 1. April 1994 abgeholt wurde, haben seine Freunde und die Familie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Wei, der zu den prominentesten Aktivisten des Pekinger Frühlings Ende der siebziger Jahre zählte, war 1979 in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Haft verurteilt worden und im Herbst 1993 freigekommen. In den folgenden Monaten schrieb Wei unbeirrt regierungskritische Artikel, die im Ausland erschienen.

„Sie haben kein Recht, ihn festzuhalten“, sagte seine Schwester Wei Shanshan, die seit fünf Jahren in Hamburg lebt. Die Behörden haben der Familie oder der Öffentlichkeit weder über einen Haftbefehl noch über eine Anklage informiert.

Die vierzigjährige Künstlerin Wei Shanshan hofft jetzt, daß eine internationale Kampagne die chinesische Regierung zwingen kann, ihren Bruder freizulassen. Ein Sprecher des Außenministeriums in Peking, Chen Jian, erklärte am 14. September, verschiedene Abteilungen der chinesischen Justizbehörden führten „rechtliche Ermittlungen“ durch, „weil Wei Jingsheng in einige Verbrechen verwickelt ist.“ Nach Angaben seiner Schwester haben die Behörden in den vergangenen Monaten jedoch immer wieder widersprüchliche Aussagen gemacht: Zunächst hieß es, Wei stünde unter Hausarrest in einem staatlichen „Gästehaus“. Aber „in jüngster Zeit haben sie zu verschiedenen Anlässen erklärt, daß er in einem Umerziehungslager auf dem Lande festgehalten wird, oder daß er als gewöhnlicher Verbrecher im Gefängnis sitzt oder in einem Pekinger Luxushotel. Der chinesische Außenamtssprecher Chen Jian hat im September auch erklärt, daß Jingsheng bereits wegen eines Verbrechens verurteilt sei – das widerspricht der Erklärung, daß noch ermittelt wird.

Wei Jingsheng, dessen Mitarbeiterin Tong Yi ebenfalls festgenommen wurde, ist für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden, der am 13. Oktober verkündet wird. Seine Nominierung wird von mindestens 48 Mitgliedern des US-Kongresses und internationalen ParlamentarierInnen unterstützt. Hugh Williamson